Who? – Algis Budrys

Who?-Algis Budrys © Fontana, Portriat, Mann mit Metallkopf und einer Metallhand vor gelbem Hintergrund
Who?-Algis Budrys © Fontana

Der Mann aus Metall

In einer Parallelkonstruktion der Welt des Kalten Krieges gibt es zwei Machtblöcke. Einer erinnert an die Sowjetunion und heißt Soviet International Bloc (SIB), der andere ist eine Allianz aus Ländern der freien Welt, mit einer Regierung namens Allied National Government (ANG). Fakultativ können die Militärbündnisse Warschauer Pakt und NATO mitgedacht werden.

Der amerikanische Wissenschaftler Lucas Martino arbeitet auf westlicher Seite im europäischen Grenzgebiet zum SIB an dem militärischen Geheimprojekt K-88. Als es bei einem Experiment zu einer Explosion kommt, bei der Martino schwerste Verbrennungen erleidet, sind die Sowjets zuerst am Unfallort und entführen ihn. In einem Krankenhaus wird er mehrere Monate behandelt. Er erhält eine metallene Schädelhülle, sein linker Arm und Teile des Torsos sind aus Metall. Die Sowjets versuchen an Informationen über Martinos Projekt zu gelangen.

Monate später wird er in einem Austausch an die amerikanische Spionageabwehr übergeben. Sie unterzieht Martino einer Vielzahl von Verhören und will herausfinden, ob Martino er selbst oder ein Sowjetspion ist. Die Fingerabdrücke sprechen für Martinos, könnten allerdings Ergebnis eines medizinischen Eingriffs sein. Weiter wird untersucht, ob in seinen metallenen Körperteilen Spionagetechnologie versteckt ist. Schließlich, ob er Informationen über das geheime Forschungsprogramm K-88 verraten hat. Die Spionageabwehr kann aber weder etwas finden noch Martinos Identität bestätigen. In der Folgezeit wird Martino von ANG-Sicherheitschef Shawn Rogers überwacht. Rogers geht davon aus, dass Martino sich irgendwann verraten wird.

Vom Mond in den Kalten Krieg

Im April 1955 wurde Budrys´ Kurzgeschichte Who? in der Zeitschrift Fantastic Universe veröffentlicht. Handlungsort ist der Mond. Aber auch hier ist herauszufinden, ob ein Mann, der nach einem Unfall zu einem Cyborg umgebaut wurde, der westliche Wissenschaftler ist, für den er sich ausgibt. Hieraus hat Algis Budrys dann einen Roman entwickelt, in dem es um wesentlich mehr geht. Regisseur Jack Gold verfilmte den Roman als Who? (1973; dt. Der Mann aus Metall).

Eine Brücke zwischen zwei Welten

Die Handlung beginnt mit einer Szene, die uns Jahre später in John Le Carrés „The Spy Who Came in from the Cold“ ähnlich wiederbegegnet: dem Austausch von Agenten auf einer Brücke. Bei Le Carré wie auch in der Realität des Kalten Krieges handelt es sich um die als Agentenbrücke berühmt gewordene Glienicker Brücke über die Havel, zwischen Potsdam und Berlin.

John Le Carrés Spione existieren, wie die Graham Greenes und auch der Protagonist bei Budrys, anders als der James Bond der ersten Jahrzehnte, in Isolation, in einer Welt voller Geheimnisse und Paranoia, in der ihre Identität instabil wird. Moralisches Verhalten ist eher ein Hindernis im Überlebenskampf. Loyalität können sie nicht einmal von ihren Kollegen und Vorgesetzten erwarten.

Martino lebt in einer Art Parallelwelt, die kaum Schnittpunkte mit der allgemeinen Öffentlichkeit aufweist. Mit Blick auch auf die Machtblöcke bewegt er sich, wie der deutsche Romantitel nahelegt: „Zwischen zwei Welten“. Seine Identität ist ein Mysterium.

Identitätsproblem mit radikaler Lösung

Für die Leser*innen ist Martino ein Opfer beider Seiten, vor allem aber ein sympathischer Mensch, dessen Leben sich fundamental verändert hat und der nicht (mehr) heimisch wird unter den Menschen. Der intensivste Aspekt der Geschichte äußert sich in der Selbstwahrnehmung Martinos. Wie verändert sich ein Mensch, wenn nicht-organische Körpermodifizierungen vorgenommen werden? Welchen Einfluss hat dies auf die Wahrnehmung durch Dritte, auf die Identität? Der Roman ist eine psychologische Charakterstudie, die auch diese relevanten Fragen aufwirft.

„Who?“ ist ein interessantes Buch, weil es eine gute Agentenstory über den Kalten Krieg verbindet mit Science Fiction, Identitätsproblemen, Cyborgs und vielleicht auch ein paar gedanklichen Ausflügen in den Transhumanismus. Sehr viel intensiver als den technologischen behandelt Budrys den psychologischen Aspekt seiner Geschichte.

Erzählung entlang zweier Zeitlinien

Budrys erzählt nicht chronologisch, sondern, für die damalige Zeit eher ungewöhnlich, auf zwei linearen Zeitlinien: der Gegenwart und der Zeit von Martinos Kindheit in New York bis zu seinem Unfall und dem Aufenthalt beziehungsweise der Gefangenschaft im SIB. Dadurch gibt es regelmäßige Perspektivwechsel. Auf beiden Zeitlinien kontrolliert Martino nicht das Narrativ, was nichts zu tun hat mit der Erzählinstanz in der 3. Person Singular.

Zurück im Westen ist er den Institutionen und Autoritäten ausgesetzt, für die er zuvor offenbar herausragende Arbeit geleistet hat. Aber sein Gegenüber vom Geheimdienst, ohnehin berufsbedingt paranoid, hat das Problem, dass er weder in die metallene Verschalung schauen kann noch psychologisch verwertbare Informationen aus den Gesprächen erhält. Wie soll er Martino lesen können, ohne Gesicht, ohne wahrnehmbare psychische oder physische Reaktionen?

Zwischen zwei Welten - Algis Budrys © Heyne, hellblauer Hintergrund, linke Metallhand auf Handrücken liegend, Weisse (Autor) und dunkelblaue (Titel) Schrift,
Zwischen zwei Welten © Heyne

In der Welt der Spione und des Kalten Krieges versagen beide Seiten. Sein Geheimdienstkontakt kann nicht herausfinden, ob Martino Martino ist, und Martino kann nicht beweisen, dass er Martino ist. Das Scheitern beider Männer war von Anfang an programmiert. Hier gibt es Anklänge an die 1950er Jahre, die Paranoia der McCarthy-Ära, die Budrys in seinem Buch seziert.

Martino sagt sich endgültig von der Gesellschaft los, für deren Sicherheit er beruflich aktiv war, und begibt sich auf der Farm der Familie in die Isolation. Bald darauf beendet er das Projekt seiner dauerhaften Kontrolle zur Feststellung seiner Identität, indem er einen radikalen Ausweg diesseits des Suizids wählt

Spätestens am Ende zeigt sich, dass die Zukunftstechnologie der Geschichte maßgeblich zur Unsicherheit über die Identität Martinos beiträgt, sowohl für den Geheimdienst wie auch für Martino, den körperlich und seelisch stark Beschädigten.

Ein Roman mit Bezug zum Heute

Eine der vielen Fragen, die mit Blick auf den Kalten Krieg gestellt werden können, ist, wie nationale Identität oder Blockidentität der Parteien beiderseits des Eisernen Vorhangs den Kalten Krieg geprägt haben und durch ihn geprägt wurden: Wer sind wir, wer wollen wir sein? Oder – am Beispiel von Martino: „Who?“ Dieses Problem ist derzeit im Feld „Europa und der Ukraine-Krieg“ offensichtlich virulent.

Statt Fazit: Persönliche Schlussbemerkung

Algis Budrys erzählt in seinem Roman viele Dinge. Aber „Who?“ ist für mich so reduziert auf das Thema Identitätszerstörung durch das Leben, dass die Frage, die Literatur in irgendeiner Form immer zu stellen scheint: was es bedeutet, ein Mensch zu sein, ins Zentrum der Lektüre rückt. Je intensiver ich mich auf den Roman einlasse, desto mehr Mitleid empfinde ich für Martino, desto deutlicher wird, dass er als Leiter eines militär-strategisch bedeutsamen Forschungsvorhabens an der Schaffung oder zumindest der Erhaltung einer Welt beteiligt ist, in der ihm widerfährt, worüber Budrys schreibt. Aber desto deutlicher wird für mich auch, dass sein konsequenter Rückzug aus der menschlichen Gemeinschaft, die keine ist, einer der wenigen Wege ist, sich vielleicht nicht weiter mit Schuld zu beladen. Auch dies ist heute einmal mehr und offensichtlich ein virulentes Thema.

Danke! an Gastredakteur Holger Wacker für die Besprechung des amerikanischen Originals

Who? (deutsche Ausgabe: Zwischen den Welten)
Algis Budrys
Science Fiction
Fontana
1979 (Erstausgabe 1958)
Buch
190
Alun Hood
83

Ein Gedanke zu „Who? – Algis Budrys

  1. Hallo liebe Eva,

    hm..hm…..ein Mensch mit künstlichen/metallenem Gesicht ….ist einfach in unseren Augen eine schlimm Sache und der Mensch wird nicht mehr als Mensch mit Gefühlen wahrgenommen….siehe z.B. Der Mann in der eisernen Maske….Film aus der Ludwig XIV Zeit..gerne als Mantel/Degen-Filme belächelt….von einem auf den anderen wird der Mensch/seine Persönlichkeit/alles Gute zum Monster ohne Rechte..

    Schlimmer noch wenn er plötzlich im Agenten/Spinonagekreisen bzw. als Spielball der Weltmächte wiederfindet….
    Ein für sich alleine sein, könnte da möglicherweise der einzige Ausweg sein….armer Mann…

    LG….karin..

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