Einsamkeit in der Unendlichkeit
„Wilde Saat“ erzählt die Geschichte von Anyanwu und Doro, zweier unsterblicher Menschen. Doro lebt bereits mehrere tausend Jahre und vermag sein Selbst in neue Körper zu übertragen. Anyanwu ist Heilerin, stammt aus Nigeria und ist zu Beginn ihrer gemeinsamen Geschichte im Jahr 1690 dreihundert Jahre alt. Sie altert nicht, weil sie sich selbst heilen kann und sie vermag ihre Gestalt zu verändern, sich sogar in ein Tier zu verwandeln. Doro und Anyanwu leiden darunter, dass die Menschen um sie herum sterben und sie zurückbleiben. Doro etablierte deswegen vor etlichen Jahrhunderten ein Zuchtprogramm. Er sucht seitdem gezielt nach Menschen mit übernatürlichen Gaben und verpaart sie miteinander. Sein Ziel ist es, den perfekt begabten und unsterblichen Menschen zu erschaffen. Anyanwu hingegen heiratete immer wieder und erschuf eine riesige Familie.
Doro findet Anyanwu zufällig, als er Sklavenhändlern nachstellt, die eines seiner Zuchtdörfer überfielen. Er ist sofort von Anyanwu fasziniert und sieht in ihr das perfekte Zuchtobjekt, dass er immer gesucht hat. Anyanwu hingegen ist angeekelt davon, dass Doro immer wieder tötet, um an neue Körper zu kommen und Menschen wie Tiere verpaart. Trotzdem geht sie mit ihm aus Angst davor, dass Doro sonst ihre Kinder nimmt. Und weil auch sie sich einen unsterblichen Nachkommen wünscht.
Doro und Anyanwu gehen nach Amerika in Doros Wahlheimat Wheatly. Mit Doros Sohn Isaak trifft Anyanwu einen guten Mann und Seelenverwandten. Obwohl sie es als Blutschande empfindet, heiratet sie Isaak auf Doros Befehl. Trotz ihrer vermeintlichen Fügung in Doros Pläne kommt es immer wieder zu grässlichen, blutigen Zwischenfällen. Anyanwu sieht sich gezwungen, Doros Nachkommen zu töten, die in ihren Geist eindringen oder ihre Kinder bedrohen. Sie flieht schließlich und baut ein eigenes Familiendorf auf. Doch Doro will sie weiterhin für seine Pläne nutzen.
„Unterwirf dich ihm, Anyanwu. Und später kannst du ihn davon abhalten, dass er Tiere aus uns macht.“
S. 224
Science-Fiction anders definiert
Mit Science-Fiction verbinden wir Geschichten, die in der Zukunft spielen, oder? „Wilde Saat“ spielt allerdings in der Vergangenheit, in den Jahren 1690, 1741 und 1840. Doro und Anayanwu besitzen übernatürliche Fähigkeiten, erinnern uns also an Held:innen aus der Urban Fantasy. Der Heyne Verlag veröffentlichte „Wilde Saat“ 2021 dennoch in der Reihe „Meisterwerke der Science-Fiction“ und liegt mit der Einordnung nicht falsch. Denn Doros und Anyanwus Fähigkeiten haftet nichts Magisches an, sondern sie werden ähnlich wie Mutationen beschrieben. Wozu auch der Plot um Zucht und Kreuzung mit dem Ziel der Kombination perfekter genetischer Merkmale passt. In der Geschichte schwingt also eher ein wissenschaftlicher Kontext mit, als ein phantastischer. „Wilde Saat“ ist in drei Bücher unterteilt, die biblische Titel tragen: „Der Bund“, „Lots Kinder“ und „Kanaan“. Der Roman vereint also wissenschaftliche und mythologische Themen und ist somit ein schönes Beispiel dafür, dass die Genregrenzen für Science-Fiction und Fantasy fließend sein können.
Der Charakter der Unsterblichen
Octavia E. Butlers Hauptfiguren in „Wilde Saat” sind beide durch ihre Unsterblichkeit geprägt, sonst allerdings völlig unterschiedlich. Auf den ersten Blick ist Anyanwu ein guter und Doro ein schlechter Mensch, doch ganz so einfach ist es nicht. Die Zeit, in der sich die beiden zum ersten Mal begegnen ist durch die Sklaverei geprägt. Sklavenhändler finden sich überall, dagegen kaum Schwarze, die nicht mit Ketten gefesselt sind und Brandzeichen tragen. Bietet Doros menschliches Zuchtprogramm seinen Menschen eine Alternative zur Versklavung an? Nicht wirklich, denn einen gewissen Schutz gewährt er ihnen nur, solange sie von Nutzen sind. Überwiegend zeigt sich Doro von seiner menschenverachtenden Seite, wenn er beliebig Leben beendet, weil er Körper nimmt. Oder Menschen züchtet und sie umbringt, wenn er sie nicht mehr braucht. Dann ist er ganz der Tyrann mit gottgleicher Macht. Gelegentlich schimmert bei ihm aber auch Respekt gegenüber Anyanwu und sogar Liebe zu seinem Sohn Isaak durch.
Anyanwu ist eine gütige und liebevolle, sowie stolze und selbstbewusste Frau. Ihre Familie ist ihr heilig und sie respektiert alle Menschen. Doch auch sie hat das Ziel, einen unsterblichen Nachkommen zu bekommen. Dafür billigt sie ein Stück weit Doros verachtenswerte Praktiken und muss in Notwehr Menschen töten. Eine weitere interessante Figur ist Isaak, Doros Nachkomme mit einer Niederländerin. Auch Isaak hat beachtliche übernatürliche Talente und ist dazu ein gutmütiger und kluger Mann, der trotz allem seinen Vater liebt. Mit Anyanwu verbindet ihn eine Freundschaft auf Augenhöhe.
Schwierig und schön zugleich
So erlaubte er Anyanwu und Isaak am Ende der Reise, sich in wilden ekstatischen und ans Unvorstellbare grenzenden Spielen auszutoben, ihr ungewöhnlichen Eigenschaften frei zu nutzen und sich als die Hexenkinder zu benehmen, die sie waren.“
S. 157
Der Einstieg in den Roman fällt schwer, denn zunächst prägen Sklaverei und toxische Männlichkeit das Bild. Unverständlich ist, warum sich Anyanwu überhaupt mit Doro einlässt. Sie wirkt beinahe genauso unfrei, wie die Sklaven, die sie auf ihrer Reise immer wieder treffen. Erst nach und nach werden Anyanwus Stärken offensichtlich und eine gewisse Macht, die sie auf Doro ausübt. Die Freundschaft zu Isaak bringt menschliche Wärme und bezaubernde Momente in die Handlung. Endlich entfaltet Anyanwu ihr Potenzial, was auf Lesende wie eine erfreuliche, sinnliche Erfahrung wirkt. Und einen Gegenpol zu Doros zerstörerischem Verhalten bildet. Es ist ein stetiges Auf- und Ab in der Beziehung der beiden Unsterblichen. Momenten von gegenseitiger Annäherung folgen Passagen voller Hass, Wut und Verzweiflung. Ein Duo Infernale, das sich gegenseitig zu zerstören droht.
Fazit
Kolonialismus und Sklaverei prägen auch die fiktive Romanwelt in „Wilde Saat“, aber auch Geschlechteridentität und Ethnien spielen eine wichtige Rolle. Doro erobert und benutzt Menschen wie Labortiere, Anyanwu erkämpft für sich und ihre Mitmenschen einen Rest an Würde. Beide schlüpfen in männliche und weibliche Körper beliebiger Hautfarben und erleben ihre Welt aus verschiedenen Perspektiven. Trotzdem identifizieren sie sich immer als Schwarze, was die Autorin eindrucksvoll vermittelt. Afrofuturismus kombiniert Historie und Kultur Schwarzer Menschen mit übernatürlichen Elementen. Der Begriff stammt aus den 90er Jahren, das Subgenre wurde jedoch bereits in den 1980ern von Olivia E. Butler etabliert. Ab der 2000er Jahre rückten anderen Schwarze Autor:innen wie Nnedi Okorafor Erzählungen dieser Art in den Fokus der SF-Literatur.
Der zurückhaltende Tonfall, mit dem Butler selbst krude Grausamkeiten erzählt, schreckt zunächst ein wenig ab, ihre bildhafte und eingängige Sprache zieht uns dagegen immer mehr in die Geschichte hinein. Erzählperspektiven eng aus den Blickwinkeln der Protagonist:innen vermeiden, dass das Geschehen moralisch pauschal beurteilt wird. Diese Antagonismen in der Geschichte und Erzählweise faszinieren und laden Lesende dazu ein, zu hinterfragen und kritisch Stellung zu beziehen.
Eva Bergschneider
Patternmaster-Zyklus, Buch 4
Science Fiction
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1984 (Ersterscheinung), 2021
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