Westeros zwischen zwei Epochen
George R.R. Martins mittlerweile zehnteilige (im Original fünfteilige) epische Romanserie „Das Lied von Eis und Feuer“ gilt auch unvollendet als wegweisendes Werk im Fantasy-Genre, da es sich in mehrfacher Hinsicht vom Stereotyp der klassischen Fantasy verabschiedet hat. George R. R. Martin beschreibt in seinem Werk Geschehen und Handlung schonungslos realistisch, die spärlich eingesetzten Fantasy-Elemente haben wenig mit denen der klassischen High-Fantasy gemein. Eine klischeehafte Gut-Böse Zeichnung der Protagonisten kommt in „Das Lied von Eis und Feuer“ fast nicht vor. Intrigen und Krieg stehen im Mittelpunkt, sowie der drohende Untergang der sieben Königreiche durch eine mysteriöse Gefahr aus dem Norden.
„Zeit der Krähen“ entspricht der ersten Hälfte von „ A Feast for Crows“, dem vierten von bisher fünf erschienenen Originalbänden von „A Game of Thrones“. In den deutschen Ausgaben werden die Bücher auf je zwei aufgeteilt und so ist „Zeit der Krähen“ der siebte Band der deutschsprachigen Buchserie.
Die Geschichte des „Eis und Feuer“ Zyklus spielt zum großen Teil auf dem Kontinent Westeros in einer dem europäischen Spätmittelalter angelehnten Welt. Die Rosenkriege und der Albigenserkreuzzug dienten dem Autor als Vorlage für die zahlreichen Feldzüge und Kämpfe um die Krone. Das merkt man den Büchern deutlich an, Martin schrieb sie an vielen Stellen im Stil eines Historienromans.
In den ersten Bänden bekämpfen sich die Adelshäuser Stark, Lannister und Baratheon. Im späteren Handlungsverlauf favorisieren Adelsfamilien aus den unterschiedlichsten Regionen von Westeros einen eigenen Anwärter für den eisernen Thron. Während die Lannisters verzweifelt versuchen, ihre Macht zu erhalten, werden Herrscher und Lords ermordet, Bündnisse geschlossen und verraten, Intrigen geschmiedet und das Land in ein Chaos gestürzt, unter dem das Volk am meisten zu leiden hat. Also fast wie im richtigen Leben im Mittelalter.
Zur selben Zeit versucht einer der Erben des Königs, der vor langer Zeit vom Eisernen Thron vertrieben wurde, eine Streitmacht aus den freien Völkern des Südens zusammen zu stellen, indem er seine Schwester an einen Stammesfürsten verheiratet. Daenerys findet allerdings eigene Mittel und Wege, einen Rückeroberungsfeldzug anzutreten.
Die Nachtwache, eine von den Königshäusern unabhängige Garde, bewacht im Norden von Westeros die Mauer, die die Länder vor den wilden Völkern schützen soll. Doch der Schutz scheint nicht mehr auszureichen. Brüder der Nachtwache kommen nicht von Patrouillengängen zurück und es werden Überfälle von gespenstischen Gestalten gemeldet. Eine Gefahr braut sich dort zusammen, der keiner der Mächtigen Beachtung schenkt.
Warum „Das Lied von Eis und Feuer“ mich und viele Fans begeistert
Die einzelnen Kapitel der Bücher werden immer aus der Perspektive einer der handelnden Personen erzählt und mit dem entsprechenden Namen betitelt. So wird die Handlung aus vielen verschiedenen Sichtweisen beschrieben und unterschiedlich gewertet. Es kommt oft vor, dass ein bestimmter Charakter zunächst besonders unsympathisch erscheint, der Leser seine Meinung aber revidiert, nachdem er die Erlebnisse aus dessen Perspektive erfahren hat. So findet man in „Das Lied von Eis und Feuer“; weder reine Bösewichte noch den strahlenden Helden, sondern vielschichtige und verschiedenartige Charaktere.
George R. R. Martins sprachlicher Stil besticht durch eine bildhafte und in jeder Hinsicht reale Erzählweise. Brutal, emotional, leidenschaftlich und detailverliebt, Martin erschafft dadurch eine besonders dichte und düstere Atmosphäre in seiner literarischen Welt. Er schreckt nicht davor zurück, zentrale Figuren, mit denen sich der Leser stark identifiziert, sterben zu lassen. So bleibt die Handlung an jeder Stelle unvorhersehbar und kontinuierlich spannend. In den ersten Bänden kommen fast gar keine irrealen Elemente vor, später gewinnt die Magie und das Fantastische mehr und mehr an Bedeutung und beeinflusst nachhaltig das Geschehen. In jedem Band kommen Charaktere dazu und bereits vorhandene, einst zentrale Figuren treten in den Hintergrund. Immer neue Verwicklungen und Geheimnisse sorgen dafür, dass „Ein Lied von Eis und Feuer“ ein Ausmaß an Komplexität annimmt, wie es auch für das Fantasy-Genre außerordentlich ist.
Die Ruhe nach und vor dem Sturm
Der Krieg in Westeros ist erst einmal vorbei. Das Land ist verwüstet, die Menschen versuchen irgendwie über die Runden zu kommen. Es herrscht allgemeines Misstrauen und eine insgesamt depressive Stimmung vor. Der Titel „Zeit der Krähen“ beschreibt die Situation in jeder Hinsicht treffend, denn in Königsmund und einigen anderen hohen Häusern des Reiches formieren sich schon wieder neue Bündnisse und Verschwörungen. Die Mächtigen in Westeros versuchen alles, um bei der Neuordnung des Reiches ihren Anteil abzugreifen.
In Königsmund ist mit Tywin Lannister der letzte große Herrscher ermordet worden. Seine machthungrige Tochter Cersei setzt ihren jüngsten Sohn Tommen auf den Thron und regiert stellvertretend nahezu in Alleinherrschaft, da sie die Mitglieder des alten Rates durch ihr hörige Vertreter ersetzt hat. Lediglich ihr Bruder Jaime, der die Schrecken des Krieges am eigenen Leib erfahren hat und genau weiß, wie es um die Position des eisernen Throns bestellt ist, versucht Schadensbegrenzung zu betreiben und bietet seiner Schwester Paroli.
Das Haus Greyjoy auf den Eiseninseln herrscht nun über den Norden. Ein Machtwechsel steht bevor, da König Balon auf dem Fels zerschellte und starb. Es gibt zahlreiche Anwärter auf den Meersteinstuhl, Balons Tochter Asha wäre nach der Thronfolge an der Reihe, doch kann eine Frau über die Eisenmänner herrschen? Balons Brüder erheben ebenfalls Anspruch auf den Thron und vertreten gegensätzliche Standpunkte, wie das Schicksal des Reiches aussehen soll. Ein beinahe vergessenes Ritual soll die Entscheidung herbei führen.
Sansa Stark versteckt sich weiterhin in der Eryie vor den Lannisters, Lord Petyrs Absichten scheinen nicht ganz die eines besorgten Onkels zu sein. Und Arya Stark schließt sich den Gesichtslosen in Braavos an, um Fähigkeiten zu erlernen, die für ihren Rachefeldzug von Nutzen sind.
Eine Phase der Selbstfindung und Neuordnung
Der Autor und sein Verlag hatten entschieden, die Handlungsebenen im vierten und fünften Originalband (A Feast for Crows / A Dance with Dragons) bewusst aufzuteilen. Daher wird der Leser in „Zeit der Krähen“ einige der wichtigsten Charaktere vermissen, Tyrion und Daenerys erscheinen erst wieder im nächsten Originalband „A Dance with Dragons“, beziehungsweise im übernächsten deutschen Band.
„Zeit der Krähen“ konzentriert sich fast ausschließlich auf die Ereignisse im Süden. Die Geschehnisse um Sansa und Arya scheinen von der Entwicklung in Westeros weitgehend abgekoppelt zu sein, beide sondieren die Möglichkeiten und versuchen ihren weiteren Weg zu finden. Währenddessen nehmen neuere Protagonisten wie Brienne von Tarth die Zügel in die Hand und stellen Weichen für die Verwirklichung ihrer Ziele. „Zeit der Krähen“ ist ein deutlich ruhigerer Roman, als seine Vorgänger. Insgesamt ist die Handlung weniger aktionsgeladen, da eher die inneren Kämpfe der Protagonisten im Mittelpunkt stehen. Dadurch wirkt „Zeit der Krähen“ psychologisch ausgefeilter. Die Charaktere werden vertieft, die trostlose Stimmung in Westeros verdeutlicht und düstere Schatten voraus geworfen.
Der siebte Band der „Eis und Feuer“ Saga ist nicht weniger interessant, als seine Vorgänger. Die Machtspiele um den Königshof sind intelligent ausgearbeitet, die Entwicklung der Charaktere immer wieder für Überraschungen gut. Die Motive der Protagonisten wurden teilweise durch kursiv gedruckte Gedanken veranschaulicht. Diese Technik schafft es zwar, deren psychologisches Profil zu vertiefen, nimmt aber zugleich dem Leser die Möglichkeit, über die Hintergründe zu spekulieren und sich möglicherweise überraschen zu lassen.
Zwischenglied zum nächsten Teil der Saga
Obwohl auch „Zeit der Krähen“ dem Fantasy-Leser Unterhaltung auf höchstem Niveau bietet, merkt man dem Buch doch deutlich an, dass es den verbindenden Teil zwischen zwei entscheidenden zeitgeschichtlichen Epochen in Westeros darstellt. Die Story wird insgesamt sehr wenig voran getrieben, die Handlungsebenen enden meist mit einem Cliffhänger. Viele Zusammenhänge bleiben dem Leser verborgen.
Mein Fazit lautet also, das „Zeit der Krähen“ ist eine lesenswerte und interessante Fortsetzung des „Eis und Feuer“ Zyklus ist, die im Vergleich zu den Vorgängern jedoch deutlich an Dynamik verloren hat.
Diese Rezension von Eva Bergschneider erschien bereits auf www.phantastik-couch.de
Das Lied von Eis und Feuer, Band 7
Fantasy
Blanvalet-Verlag
Juni 2006
570
Funtastik-Faktor: 74