Amalthea – Neal Stephenson

Mit einem schlechten Blatt zu siegen versuchen

Amalthea © Manhattan
Amalthea © Manhattan

Mit der Aussage: “Der Mond explodierte ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund.” beginnt Stephenson seinen – das neue Wege beschreitende und als Serial Novel bezeichnete Multiautorenprojekt „The Mongoliad“ nicht mitgerechnet – dreizehnten Roman, wieder ein sehr umfangreiches Werk, das, wie man schnell feststellt, im mehrfachen Sinn zur harten Science Fiction gehört. Es ist inhaltlich anspruchsvoll, arbeitet mit einem umfangreichen Wortschatz und viel Fachterminologie. Stephenson verwendet einige Neologismen, um seinen literarischen Kosmos zu erfassen, darunter „Neoander“, „Parambulator“, „TerReForm“, „Mubot“, „Nickscht“ und das Akronym „ONAN“.

Zwar lässt der erste Satz auf einen Katastrophenroman schließen, aber erzählt wird der Anfang distanziert, kommt in die Nähe einer Reportage, die stärker an der Sache als an der Emotionalisierung der Leser interessiert ist.
In schneller Folge werden die Figuren eingeführt, die in den beiden ersten Teilen des Romans die Handlung bestimmen. Die Ursache des Ereignisses wird allgemein „Agens“ genannt, sie zu ergründen ist man nicht in der Lage. Zu Beginn geht man davon aus, dass es sich um ein harmloses Ereignis handelt – der Mond ist lediglich in sieben große Teile zerbrochen. Als zwei Fragmente kollidieren und eines von ihnen sich teilt, stellen Wissenschaftler Berechnungen an, die erschreckend sind: es wird zu weiteren Kollisionen und Fragmentierungen kommen, einem Bombardement der Erde mit Mondgestein und der Auslöschung des Lebens in etwa zwei Jahren („Weißer Himmel“ und „Harter Regen“ sind hier zentrale Stichworte). Danach wird die Erde für mehrere Jahrtausende nicht bewohnbar sein.

Eine neue Arche Noah

Stephenson schaltet nun um auf eine Endzeitgeschichte, in der er im Detail entwickelt, wie die Menschheit mit einer existenziellen Bedrohung umgehen könnte, nachdem sie sich von der Vorstellung verabschiedet hat, es gehe doch noch irgendwie alles gut. Möglich ist allenfalls, sich in das Erdinnere und in das Weltall zu begeben. Das Überleben der Menschheit, nicht hingegen der Menschen, hängt davon ab, eine neue Arche Noah zu bauen. Es wird eine Cloud-Arche, ein Konstrukt aus Sub-Archen, die in den Orbit geschickt werden. Im Zentrum dieser Maßnahme befindet sich die International Space Station (ISS, genannt Izzy). Im Rettungskonstrukt werden zuerst Wissenschaftler und Ingenieure, das genetische Erbe der Ökosysteme der Erde, weitgehend digitalisiert und in Form von Gewebeproben, untergebracht. Bücher und Webseiten der Welt werden dort archiviert. Später, kurz vor dem Untergang, müssen noch Träger von Genmaterial dabei sein, die das Überleben der Menschheit sichern können – aus biologischen Gründen überwiegend Frauen.

Stephenson behandelt die narrativen Fäden mit großer Sorgfalt und Intelligenz, bis hin zu den physikalischen Problemen, die ein derartiges Projekt mit sich bringen kann. Er vereint in „Amalthea“ zwei Herangehensweisen an Endzeitliteratur. Die beiden ersten Teile erzählen von der Zeit vor der Katastrophe, welcher Art sie sein wird, was die Menschheit dagegen unternimmt und wie einzelne Menschen sich verhalten. Der dritte Teil nimmt die Handlung 5000 Jahre in der Zukunft wieder auf und beschreibt, wie sich die Nachfahren entwickelt haben und die Neu-Kolonisierung der Erde beginnt. Eher am Rande wird diese Zukunftswelt auch kritisch gesehen. In der Zeit zwischen den beiden Teilen hat es mehrere Kriege gegeben, nach 5000 Jahren gibt es Hunger und Kontrolle, Quarantäne-Agenten führen Verhöre als zwanglose und beunruhigende Gespräche.

Schnelle Entscheidungsträger und Welt im Konsens

Zwar ist „Amalthea“ Science Fiction, aber es gibt nicht im Angesicht des erwarteten Untergangs den Wettlauf gegen die Zeit, um eine Rettungstechnologie zu entwickeln, die irgendein im Hinterland vor sich hindümpelnder Nerd in Ansätzen schon auf dem Papier hat und der seit Jahren versucht, von den zuständigen Ignoranten in der Wissenschaftsbürokratie Forschungsgelder für die Entwicklung zur Reife zu bekommen. Es gibt auch nicht Endzeitszenarien, die Mittel für weitere Forschung freischaufeln sollen, an die aber niemand wirklich glaubt, die lediglich benutzt werden, um andere Ziele zu realisieren. Nein, in „Amalthea“ sind die harten Fakten bekannt, und schon nach wenigen Seiten machen sich die Entscheidungsträger Gedanken darüber, wie man der Katastrophe so begegnen kann, dass wenigstens die Arterhaltung möglich ist. Gewissermaßen findet in der Ausgestaltung eine Wiederankopplung an Grundgedanken der Evolutionstheorie statt, von der man sich so lange schon verabschiedet hatte.

Im Ende keimt der Neuanfang

Stephenson arbeitet die Bedrohung und die Reaktion der Menschheit auf diese sehr detailliert aus. Die Mondfragmente bekommen alberne Namen wie „Schöpfkelle“ und „Kidneybohne“, die nur bedingt verharmlosend wirken, aber ermöglichen, sich auf vielen Ebenen mit ihnen zu beschäftigen – bis hin zu Schulkindern, die im Unterricht Beobachtungen vornehmen und Zeichnungen erstellen.
Er liefert Kurzbiographien und Hintergrundinformationen zu seinen gut charakterisierten Hauptfiguren, schreibt spannend über die Zeit der Verzweiflung, der Zwangsopfer und freiwilligen Aufopferung, der Auswahl der Überlebenden und der Zerstörung einerseits, den Neubeginn auf der Erde andererseits.
Wir erfahren viel über das Arbeiten auf einer Weltraumstation, über die logistischen Probleme, die bei dem Großprojekt zur Rettung der Menschheit zu bewältigen sind, über Orbitalmechanik. Vom Überlebensplan bis zum nicht Erwarteten aber dennoch Eingetretenen, was auf die „Sieben Evas“, am Ende gar auf eine andere Lösung für eine neue Menschheit führt, Parthenogenese eingeschlossen, beschreibt Stephenson alles mechanisch und mit entsprechender Gefühlsneutralität. Wer zum Beispiel über Kannibalismus und den Verlust von Menschen nicht lesen will wie über „zu einem hexagonalen Rahmen verbundene Subarchen“, sollte an dieses Buch mit einer gehörigen Portion Offenheit herangehen oder sich eine andere Lektüre suchen.

Soweit „Amalthea“ schön genannt werden kann, hat er seine schönsten Momente in den Szenen, die Stephensons Vorstellung von dem zeigen, was Menschen zueinander sagen und wie sie mit einander umgehen, wenn sie vor dem Endpunkt stehen, wissen, bald ist Schluss, alles, was wir machen oder sagen, ist im selben Moment entscheidend und gleichgültig.

Diese Rezension hat Gastrezensentin Almut Oetjen geschrieben – Vielen Dank!

Amalthea
Neal Stephenson
Phantastik-Plus
Manhattan
November 2015
1054

Funtastik-Faktor: 86

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