Schnell, schrill und düster – Cyberpunk komprimiert auf’s Wesentliche
Frank Hebben schreibt überwiegend Dark Industrial und Cyberpunk, gelegentlich auch Steampunk und Science-Fiction Kurzgeschichten, die überwiegend in Magazinen wie c’t, NOVA, Exodus, Space View und phantastisch! veröffentlicht werden. Im Jahr 2008 veröffentlichte der Wurdack-Verlag seine erste eigene Story-Sammlung „Prothesengötter“ die in der Science-Fiction und Cyberpunk-Szene großen Anklang fand. Die Storysammlung „Maschinenkinder“ ist der Nachfolger von „Prothesengötter“ und erschien 2012. Frank Hebben hat inzwischen weitere Anthologien herausgebracht, oder selbst geschrieben. Doch da „Prothesengötter“ mein erster und zugleich tief beeindruckender Einstieg in das Cyberpunk-Genre war, wollte ich unbedingt wissen, was es unmittelbar darauffolgend von diesem Autor Neues zu entdecken gab. Zudem hatte ich inzwischen das Computermagazin c’t als Bezugsort für Kleinode des Genres entdeckt und die dort zuerst veröffentlichte Story „Cȏte Noir“ bereits genossen.
„Maschinenkinder“ beschreibt, wie der Titel schon vermuten lässt, Welten und Lebensräume, in denen der Mensch mehr oder weniger zur Maschine geworden ist, beziehungsweise sich die Maschine nicht wesentlich vom Menschen unterscheidet. In diesem Spannungsfeld spielen sich düstere, verwirrende und zum Teil surreale Szenen ab, die mehr Fragen aufwerfen, als beantworten. Wer nette, erheiternde und in sich abgeschlossene Geschichten bevorzugt, ist mit Frank Hebben definitiv an den falschen Autoren geraten. Wer aber gern über den Tellerrand hinaus liest und sinniert, hinterfragt, Hypothesen verwirft und vielleicht erst auf den zweiten Blick versteht, dem sei die Lektüre des Autors schon an dieser Stelle wärmstens empfohlen. Auf was sich der Leser, der dieser Empfehlung folgt, einlässt, erfahrt ihr im Folgenden.
Titel | Seite |
Vorwort von Myra Çakan | 9 |
Das Lichtwerk | 11 |
Schwarzfall | 44 |
Machina | 55 |
Elysian | 66 |
Krematorium | 78 |
Kinder der grossen Maschine | 89 |
Byte the Vampyre | 108 |
Highscore | 117 |
Cyst | 119 |
Cȏte Noir | 125 |
Muschelplanet | 161 |
Schwarz Weiss | 165 |
Brause | 180 |
Outage | 216 |
In „Das Lichtwerk“ umgibt die Immernacht die jugendlichen Überlebenskünstler Paul und Lisa und den Veteranen Rhombus. Ihr Lebensraum befindet sich unter einer verdreckten, dunklen Glaskuppel. Tagsüber durchsucht Paul die Reste der Hafenstadt nach allem, was Rhombus für den Bau eines Lichtwerks gebrauchen kann. Denn des Nachts dringen Gefahren aus einer anderen Welt in die Immernacht, derer sie sich erwehren müssen. Doch wie konnte es soweit kommen?
„Lichtwerk“ ist zunächst eine bodenständige postapokalyptische Cyberpunk-Story. Wir folgen den Protagonisten durch die Gefahren ihres Alltags und erfahren von Rhombus, wie diese Welt zu dem wurde, was sie ist. Zum Ende prägen diese Geschichte zunehmend surreal anmutende Szenen und Bilder, die das vom Leser zusammen gesetzte Weltbild in Frage stellen.
Vor dem „Schwarzfall“ kommen mit den Teslaspulen die industrielle Revolution und der Wandel zu einer Gesellschaft der Prothesenmenschen. Alles, was der Dame oder dem Herrn an ihrem oder seinem Körper missfällt, wird durch Prothesen ersetzt. Doch dann fällt der Strom aus und die Annehmlichkeiten der Technik bleiben den Menschen Monate lang versagt.
Die Story „Schwarzfall“ lehnt sich deutlich an das Steampunk-Genre an, das sich gern der Tesla-Energie bedient und häufig im deutschen Kaiserreich spielt. Mittlerweile verwendet man allerdings auch den Begriff Tesla-Punk für Geschichten, die sich dieser Theorie bedienen. Frank Hebben zeichnet den Verfall einer von Technik abhängigen Gesellschaft. Und erzählt mit sarkastischem Unterton was passiert, als scheinbar Rettung naht.
Der junge Maurice lebt in seiner virtuellen Computerwelt „Machina“. Hier kann er kreativ sein, ist einfach er selbst. Seine Schwester Sophie zwingt ihn regelmäßig, in die reale Welt zurückzukehren. Bis eines Tages ein Unglück geschieht.
Diese Geschichte ist eine der emotionalsten, denn der Leser kann die Wut und die Sehnsucht beider Charaktere nachempfinden. Ihr Turning Point verändert die Atmosphäre jedoch in unerwarteter Weise. Obwohl „Machina“ in der Form der Kurzgeschichte das genaue Gegenteil zu Tad Williams opulenter Tetralogie zu sein scheint, erinnert sie an Orlandos Geschichte aus „Otherland“. „Machina“ vermittelt eine ähnliche Gefühlsmischung aus Verträumtheit und Trauer.
In „Elysian“ ist Cyrill Schäfer Quizmaster einer TV Show, in der Kandidaten, die Geld brauchen, ihre Körperteile verwetten, um zu gewinnen. Derjenige, der eine Wettrunde verliert, wird live amputiert. Ein Zwischenfall stört den üblichen Ablauf der Show empfindlich.
Die Story „Elysian“ mag ein wenig an den Plot aus „Die Tribute von Panem“ erinnern, entstand allerdings Jahre vor dem Bestseller von Suzanne Collins. Vielmehr stellt „Elysian“ einen satirischen Gegenentwurf zu einer Dystopie dar.
Im Erscheinungsjahr 2004 ging in Deutschland gerade “Big Brother” in die 5. Staffel, die Lebensbereiche „Arme“, „Normale“ und „Reiche“ wurden für die Kandidaten eingerichtet. Heute sehen wir finanziell angeschlagenen Möchtegern-Promis beim Verzehr von Käfern zu. Es stellt sich damals wie heute die Frage, wie weit unsere TV Landschaft noch von dem in „Elysian“ beschriebenen menschenverachtenden Szenario entfernt ist.
In „Byte the Vampyre“ lockt das Mädchen Popcorn Junkies an, die im Kopf I/O Buchsen für den Eintritt in virtuelle Welten implantiert haben. Ihr Boss Raven missbraucht sie für einen speziellen grausamen Trip.
„Byte the Vampyre“ ist die vielleicht typischste Cyber-Punk Story in der Anthologie „Maschinenkinder“. Bilder aus virtuellen Spielewelten treffen auf Drogenphantasien und in Neonlicht getauchte Asphaltwüsten. Lässigkeit zeichnet die Sprache aus. Trotz des düsteren Ambientes und Themas, könnte es sich auch um eine flippige Coming of Age Geschichte handeln.
Der Atomkrieg hat ein Paradies zerstört, die Cȏte Azur hat sich in die „Cȏte Noir“ verwandelt. Migräne geplagt und mit rudimentärer Erinnerung rast Gabriel auf seinem Motorrad die Küstenstraßen Südfrankreichs entlang Irgendwo in einem Labor oder Militärgelände befinden sich Datenträger mit seinen Erinnerungen und dem Schlüssel zu der Katastrophe.
„Cȏte Noir“ spielt in einem typischen postapokalyptischen Setting, garniert mit ein wenig obskurer Religion und KI-Biotechnologie. Das Rätsel, wer Gabriel ist und wie es zu der Apokalypse kam, steht im Mittelpunkt. Die vergleichsweise lange Geschichte (36 Seiten) lockt den Leser auf einige falsche Fährten, bevor sie auf das ernüchternde Finale zusteuert. Auf eine Ende, das zwar nicht vollkommen überrascht, aber trotzdem erschüttert.
In „Schwarz-Weiss“ fertigen Fabriken auf einem Mond Roboter, die wiederum Kampfschiffe erbauen. Eine der Roboterfabriken produziert schwarze Roboter mit einem weißen Arm, eine andere weiße Roboter mit einem schwarzen Arm. Für die Funktionalität und Leistung des Roboters spielte uneinheitliche Farbgebung keine Rolle.
Die Geschichte „Schwarz-Weiss“ ist eine eindrucksvolle Parabel zum Thema Rassismus. Sie beschreibt Ereignisketten und Konsequenzen, die den Leser überraschen, obwohl oder gerade weil sie vollkommen naheliegend und schlüssig sind. Eine einfach gehaltene, lineare Sprache unterstreicht die Unausweichlichkeit der Entwicklung.
In „Outage“ ist für Singh, Bewohner einer Zukunftsstadt im Ruhrgebiet, der entscheidende Tag gekommen.
„Ich sehe aus, wie ein verdammter Messias-Abklatsch. [..] Aber glaubt mir, ich bringe Euch nicht den Frieden.“ [S. 188]
Setzt der Junkie die Revolution gegen ein System in Gang, welches jeden Lebensbereich seiner Bürger kontrolliert?
Ähnlich wie in „Byte the Vampyre“ spielt „Outage“ im Betondschungel einer typischen Cyberpunk-Metropole. Allgegenwärtig sind TV-Bildschirme auf denen rund um die Uhr „Breaking News“ gesendet werden. Von einem Moment zum anderen fällt der Strom aus. Was sich tatsächlich im Dunkeln abspielt, wird erst ganz am Ende klar.
Diese Geschichte haben drei Autoren geschrieben, neben Frank Hebben, Thorsten Küper und Uwe Post. Das merkt man der Schreibe nicht an, denn die Handlung in „Outage“ wird von vier Ich-Erzählern geschildert, deren Rollen sicherlich auf die Autoren verteilt wurden.
Die Verschiedenartigkeit der abwechselnd auftretenden Protagonisten wird schnell offensichtlich, ihre Motive bleiben zunächst rätselhaft. Bis zum spektakulären Show-Down.
Ein Wesensmerkmal der Literaturgattung Kurzgeschichte, die Schnelllebigkeit, tritt in vielen von Frank Hebbens Geschichten in „Maschinenkinder“ besonders deutlich hervor. Man erfährt kaum etwas über die Vorgeschichte der Protagonisten. Oder darüber, wie ihre Lebenswelten, ob alternativ, virtuell oder im Weltraum, zu dem wurden, was sie sind.
Es ist oft nur ein kurzer Blick, den der Leser auf die Szenerie wirft, doch der ist dafür umso intensiver. Ob in grellen Farben schillernd oder in dunkelste Tristesse getaucht, die Schauplätze, Handlungen und Emotionen erzeugen nachhaltige Bilder im Kopf des Lesers. Die Detailgenauigkeit der Beschreibungen geht oft über das hinaus, was man als ‚angenehm lesbar‘ bezeichnen möchte. Doch genau das verleiht diesen Stories ihren Kick, einen Tiefgang, den viele weitaus umfassendere Werke oft vermissen lassen.
Ein häufiges Motiv der Geschichten ist die Einsamkeit der Protagonisten, Mensch, Maschine oder beides, in der technisierten Welt. Die Menschen sind ihrer Menschlichkeit beraubt, während die Maschinen Freude, Trauer, Verzweiflung und Wut empfinden, gar ein Gewissen haben. Sie kämpfen einen verzweifelten Kampf, den sie nicht gewinnen können. Sie begeben sich auf eine Queste, die allenfalls zu einer Verschnaufpause im Zerfallsprozess, oder direkt ins Verderben führt. Ein unmittelbares oder zumindest langfristiges Systemversagen ist oft die Folge ihrer Aktionen, geschieht manchmal aber auch ohne jegliches Zutun.
So vielfältig und ideenreich wie ihre Schauplätze und Figuren, ist auch die Sprache mit der die Geschichten erzählt werden. Von lakonisch-rudimentär, über sarkastisch oder trashig, bis hin zu überschwänglich bildhaft. Frank Hebben hat ein feines Gespür dafür, welche Stilelemente am wirkungsvollsten die Atmosphäre unterstreichen und prägen.
Und so sind diese Kurzgeschichten in der Anthologie „Maschinekinder“, genauso wie die der „Prothesengötter“, ungemein faszinierende Ausflüge in schrecklich schöne, düstere Cyberpunk-Welten und die Erlebnisse ihrer Bewohner. Wir begegnen Robotern und Maschinen mit Identifikationspotential und fast zur Unkenntlichkeit verfremdeten Menschen, die ihre Welt verändern, oder einfach nur Momentaufnahmen mit uns teilen. Sie alle haben etwas zu sagen, drängen uns ihre Botschaft jedoch nicht auf. Diese herauszufinden, ist das spannendste an den Geschichten der „Maschinenkinder“.
Diese Rezension von mir findet ihr ebenfalls im Magazin PHANTAST, Ausgabe #14 „Cyberpunk“
Science-Fiction/Cyberpunk
Shayol
2009
220
Funtastik-Faktor: 80