Wahnwitzig bunt und großartig
Endlich raus aus dem Gefängnis. Shadows Plan, den alten Job wieder aufzunehmen und mit seiner Frau ein normales Leben ohne irgendwelche schräge Touren zu führen, rinnt ihm wie heißer Wüstensand durch die Finger, als er vom gemeinsamen Unfalltod seines Bosses und seiner großen Liebe (in eindeutiger Pose) erfährt. Überwältigt von Trauer und Wut weiß Shadow zunächst nicht, wie es weitergehen soll. Da taucht der mysteriöse Mr. Wednesday auf, der ihn penetrant mit einem Jobangebot nervt, bis Shadow schließlich zusagt. Ab sofort arbeitet er als eine Art Bodyguard für den exzentrischen Mann, der so ungewöhnlich viele Details über Shadow weiß. Wednesday schickt ihn auf eine Reise quer durch die USA, auf der es um nichts Geringeres geht, als um die Seele Amerikas selbst. Behauptet jedenfalls Mr. Wednesday …
Selbst, wer sich nur ein wenig mit Mythologie beschäftigt hat oder einfach gern mal Dystopien, Fantasy- oder Horrorfilme sieht (Schulzeit? Hatte ich die Schulzeit erwähnt?), weiß, dass Göttervorstellungen oft in einer ganz bestimmten Region verheimatet sind. Thor und Konsorten im Norden Europas, Ra, Horus und Isis in Ägypten, Zeus und sein Pantheon in Griechenland, Jupiter, Diana und Ares in Rom, usw. usw, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen. Was aber, wenn sich alle möglichen Aspekte der unterschiedlichsten Götterwelten auf einem einzigen Kontinent tummeln und das schon seit Jahrhunderten? Dann wird’s ordentlich bunt. Das große Durcheinander dabei mal völlig außer Acht gelassen. In Neil Gaimans „American Gods“ muss sich die Hauptfigur jedoch genau einer solchen Realität stellen: Götter, die sich mal mehr, mal weniger erfolgreich unbeachtet ins alltägliche Leben integriert haben, schicken ihn auf eine wahnwitzigen Trip, an dessen Ende eigentlich kein Gewinner wartet.
Mehr drin, mehr dran?
Die ursprüngliche Fassung von „American Gods“ hat bei ihrem Erscheinen 2001 einige bedeutende Preise eingeheimst, die den Roman somit zu einem der meist beachteten Romane der letzten 15 Jahre gekürt haben. Unzweifelhaft zu Recht. Die Liste ist lang: Hugo Award for Best SF/Fantasy Novel, Bram Stoker Award for Best Horror Novel, Locus Award for Best Fantasy Novel, Nebula Award for Best Novel.
Jetzt ist der Director´s Cut erschienen, auf Wunsch des Autors, dem der Verlag nur zu gern folgte. Aber was unterscheidet die Langfassung von der Ersten, so erfolgreichen? Was machen die knapp 50 Seiten mehr aus? Zugegeben, ich kann da nur mit wachem Verstand mutmaßen, da ich die Cut-Version nicht persönlich kenne. Auffällig sind jedoch einige Passagen, die das Tempo des Romans mitunter etwas reduzieren. Und nicht alle davon haben in direkter Weise mit der Hauptfigur des Shadow zu tun. Aber sie erfüllen dennoch einen Zweck: sie geben dem absolut runden wie genialen Universum von American Gods noch ein paar Zuckerstückchen oben drauf. Unbestritten mehr Gaiman auf mehr Seiten. Hier werden eindeutig die einzelnen Teile zu mehr als dem großen Ganzen. Was will man als Fan noch mehr?
Hineingeworfen in eine Welt, die einige Jahre nicht die seine war, und nun noch viel fremder wirkt, je öfter er einen Blick hinter die Kulissen von Göttinnen und Göttern gewährt bekommt. Ob er will oder nicht. Für Shadow ein mehr als nur zwiespältiges wie zweifelhaftes Vergnügen. Trotzdem passt er sich an und bleibt dennoch ganz er selbst. Selbst wenn man auf den ersten Seiten vielleicht ein wenig Schwierigkeiten haben mag, mit der Hauptfigur warm zu werden, das gibt sich recht schnell. Nicht nur Shadow ist komplex, aber dabei doch so nachvollziehbar angelegt. Selbst ein Mr. Wednesday, ein selbstgefälliger und egoistischer ‚Mensch‘, hat klare Ambitionen, eine der Lieblingsfiguren des Romans zu werden. Keine Figur wirkt deplatziert oder gar unnötig. Im Gegenteil, am Ende mag man nicht auch nur auf das kleinste Detail verzichtet haben wollen. Mag das nun aufgrund positiver oder eher abgeneigter Gefühle passieren.
Shadow muss sich am Ende, trotz all der Widrigkeiten und den Verstand verwirrenden Situationen, die jede Gottheit mit der ihr eigenen Note zu würzen weiß, gegen diesen irren Krieg behaupten, will er schadlos daraus hervorgehen. Aber kann man das in Anbetracht dessen überhaupt? Was uns zum Kern des Romans führt.
Ein bunter Meilenstein
Man kann „American Gods“ einen dauerhaft bestehenden Bezug zur wirklichen Welt einfach nicht absprechen. Religionsvielfalt beherrscht unsere Welt seit Jahrtausenden. Leider auch der ewig andauernde Konflikt darüber. Vielfältigkeit, ein bunter Mix, das macht Amerika aus. Und den Rest der Welt. Die Idee, die Götter selbst um ihre Existenz kämpfen zu lassen, ist dabei nicht so abwegig, wie man vielleicht meinen mag. Gerade in den heutigen Zeiten von extremen Religionsansichten wäre das vielleicht sogar die Lösung. Lasst es die da ‚oben‘ ausfechten. Am besten ohne Einmischung des Menschen. Neil Gaimans Roman ist aktuell wie eh und je und wird es vermutlich auch noch auf lange Sicht bleiben. Gepaart mit einer wirklich grandiosen Ausführung des Story tellings ist diese Uncut Version des Meisters Gaiman zu Recht ein Meilenstein der fantastischen Literatur. Sogar aufgrund der knapp fünfzig Seiten mehr.
Diese Rezension hat Gastrezensent Carsten Steenbergen geschrieben – Vielen Dank!
Hörbuch – Empfehlung!
Lange im Auto unterwegs, oder generell zu wenig Zeit, um Bücher zu lesen? Das ist kein Grund sich den Director´s Cut von Neil Gaimans „American Gods“ entgehen zu lassen. Im Gegenteil, die von Stefan Kaminski gesprochene Hörbuch-Version von Lübbe-Audio ist ein wahres Kleinod dieses Mediums. Stefan Kaminski hatte nun – weiß Gott 😉 – mit vielen Charakteren zu tun, denen er individuelle Stimmen verleihen musste. Was ihm grandios gelungen ist. Bis zu Nebenfiguren erhört man deren chararkteristische Nuancen in Stimme, Tonlage und Sprachcharakteristik. Zudem atmet der Erzählstil in jeder Szene wunderbar die Atmosphäre des Romans. So kann sich auch der Hörbuch-Fan bedenkenlos auf dieses phantastische Abenteuer einlassen und wird nach den vielen Stunden Erzählgenuss vieleicht etwas traurig sein, dieses Amerika der Götter wieder zu verlassen. (nachgereicht von Eva)
Fantasy
Eichborn Verlag
Mai 2015
Funtastik-Faktor 88