Blumen für Algernon – Daniel Keyes

Ein Zukunftsmärchen über Intelligenz, Glück und Menschlichkeit

Blumen für Algernon Daniel Keyes © Klett-Cotta
Blumen für Algernon © Klett-Cotta

Charlie Gordon hat es allein seinem Ehrgeiz zu verdanken, dass er ein wenig lesen und schreiben gelernt hat. Er ist 32 Jahre alt und debil. Er ist aber auch ein fleißiger Schüler in Alice Kinnians Klasse an der Schule für retardierte Erwachsene und ein beliebter Hilfsarbeiter in Mr. Donners Bäckerei. Charlie wird für eine Operation ausgewählt, die ihn befähigen soll, zu lernen. Das Experiment funktioniert, Charlie erhält Intelligenz und lernt immer mehr dazu.
Wie die Maus Algernon. Charlie mochte sie vor der Operation nicht, denn sie hat ihn stets im Labyrinth-Spiel besiegt. Nach der OP ist es genau anders herum, Charlie lernt das Spiel und gewinnt Algernon als Freund.

Er gewinnt ebenso Erinnerungen an seine Familie. An einen Vater, der sein seelischer Rückhalt war, der sich jedoch nicht durchzusetzen vermochte. An seine Mutter, die aus ihm unbedingt einen ‚normalen‘ Jungen machen wollte, bis die Schwester Norma zur Welt kam. An die Schwester, die den zurückgebliebenen Bruder hasste.

Seine Freunde in der Bäckerei verliert Charlie. Er wird ihnen unheimlich, denn er fällt nicht mehr auf ihre Schikanen herein. Dafür entdeckt Charlie die Liebe, die jedoch nicht mit Intelligenz begreifbar ist. Charlie entwickelt sich zum intellektuellen Überflieger und seine Ärzte präsentieren ihn als wissenschaftliche Attraktion. Doch Charlie beginnt zu ahnen, dass der Preis für diesen Erfolg noch zu zahlen ist. Von Algernon und ihm.

Sprachlich brillante Darstellung

Charlie erzählt das Geschehen aus seiner Sicht in Fortschrittsberichten. Seine Ärzte überprüfen den Erfolg ihres Experiments anhand seiner niedergeschriebenen Erlebnisse, Gefühle und Erinnerungen. Der Anfang liest sich holprig. Klar, Charlies Sprache ist radebrechen und nur mühsam zu verstehen. Trotzdem nimmt er mit diesen einfachen, kompromisslos ehrlichen Worten den Leser direkt für sich ein. Ein liebenswerter Mensch öffnet sein Herz und teilt seine Ängste und Hoffnungen an der Schwelle eines neuen Lebens.

Nach der Operation wird die Sprache langsam verständlicher, die geschilderten Sachverhalte komplexer. Mit Charlie entdeckt der Leser die Möglichkeiten seiner neuen Welt. Wie Keyes diese Entwicklung allein sprachlich umsetzt und die Übersetzerin Eva-Maria Burgerer sie ins Deutsche überträgt, ist für sich genommen schon sensationell. Noch beeindruckender ist es, die emotionale Entwicklung Charlies nachzuverfolgen, die eben nicht so schnell voran schreitet. Dazu kommen die Erinnerungen an die unschöne Kindheit, der schleichende Verlust der Unschuld. All das beschreibt Daniel Keyes auf eine Art, die uns staunen lässt und das Geschehen doch nachvollziehbar macht. Der Leser fiebert, feiert und leidet mit dem Protagonisten. Die Sicht auf Charlie verändert sich wie Charlie selbst. Zunächst ist man begeistert davon, wie ein zurückgebliebener und liebenswerter ‚Junge“ sein Wissen steigert und seinen Verstand entwickelt. Ungefähr in der Mitte des Romans stellt sich die Frage, wie weit der intellektuelle Aufstieg noch geht und ob man Charlies Berichte am Ende des Buchs noch verstehen wird. Ab der Stelle treten immer mehr die Schattenseiten dieser Transformation wie Selbstüberschätzung und extreme Stimmungsschwankungen in den Vordergrund.

Ein echter Klassiker mit zeitlosem Wert

Eine zeitlose Geschichte kennzeichnet zweierlei. 1. Sie enthält wenige Elemente, die sich einer bestimmten Zeit zuordnen lassen. 2. Sie vermittelt Botschaften, die bereits in der Vergangenheit eine Bedeutung hatten und diese voraussichtlich in der Zukunft haben werden. Für „Blumen für Algernon“ gilt beides, es gehört zu den Büchern, die man sich gut als Schullektüre vorstellen kann, weil in dieser ergreifenden Geschichte viel Weisheit steckt. Im Mittelpunkt steht die Frage danach, was den Menschen ausmacht. Ist es die Intelligenz? Oder die Empfindungsfähigkeit? Oder gar eine Seele? Den Beweis einer Seele bleiben uns Religion und Wissenschaft bisher schuldig und auch für die Empfindungsfähigkeit lässt sich kein allgemein anerkanntes objektives Maß finden. Die Intelligenz hingegen glaubt man vermessen zu können. Charlies Intelligenzquotient liegt bei unterdurchschnittlichen 70 und nach der Operation erreicht er einen IQ jenseits der 180. Was das für ihn als Mensch und sein gesellschaftliches Umfeld bedeutet, stellt den roten Faden der Handlung dar.

Neben einem originellen Gedankenexperiment, dessen plausibel hergeleiteten Konsequenzen und dem bewegenden Psychogramm des Protagonisten bietet „Blumen für Algernon“ eine Fülle an Gedankenanstößen. Darüber was Glück bedeutet oder den Wert eines Menschen ausmacht. Daniel Keyes bekannter Klassiker zeigt, wie Science-Fiction Literatur die Position des Menschen in einer sich wandelnden Gesellschaft diskutiert. Entstanden ist dieser Roman vor mehr als 50 Jahren. Eine Operation zum Zweck der Intelligenzsteigerung hat bis heute niemand entwickelt. Dennoch scheint man davon auszugehen, dass die Menschen intelligenter werden. So wurde in den letzten Jahren in Deutschland sowohl das Einschulungsalter, als auch das Alter für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife gesenkt. Begabte Minderjährige können vor ihrem 18. Geburtstag ein Universitätsstudium beginnen. Doch inwiefern wird dafür ihre soziale Reife berücksichtigt? Was wird diesen jungen Erwachsenen in ihrer Entwicklung vorenthalten? Und wie wirkt sich die Etablierung von Turbobildung auf jene aus, die ihr nicht folgen können?

DANKE an Simone von Papiergeflüster, auf deren Empfehlung ich das Buch genossen habe.

Eva Bergschneider

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Blumen für Algernon
Daniel Keyes
Science-Fiction
Klett-Cotta
2006
298

Funtastik-Faktor: 94

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