Das Erbe der Elfenmagierin (Die Chroniken von Beskadur 1) – James A. Sullivan

Die Suche nach Erinnerungen als Lebensaufgabe 

Das Erbe der Elfenmagierin© Piper, nebelverhangene Felsenlandschaft, Bergspitze mit Burg, Reiter mit wehendem Gewand und Lanze, weißer Hintergrund,
Das Erbe der Elfenmagierin© Piper

James A. Sullivan veröffentlichte 2004 gemeinsam mit Bernhard Hennen den Roman „Die Elfen“, der bis heute einer der erfolgreichsten Fantasy-Romane in Deutschland ist. Nach der Fortsetzung „Nuramon“ schrieb Sullivan einige Science-Fiction Romane. Mit „Das Erbe der Elfenmagierin“ kehrte der Autor wieder in die Fantasy zurück.

Die Elfen wurden von Welt zu Welt getrieben, bevor sie sich in Alvaredur sicher fühlten und niederließen. Naromee war ihre Seelenmagierin und in der Lage, durch die Seelen ihrer Ahnen zu schauen, also Erinnerungen ihrer Vorfahren heraufzubeschwören. Sie wollte mehr über diese Welt erfahren und zog los, um anderen Völkern ihre Gabe zum Geschenk zu machen. Diese Reise forderte ihr Leben und seither gibt es niemanden im Volk der Elfen, der auf diese Erinnerungen zugreifen kann.

Jedoch gibt es Elfen, die eine besondere Verbindung zu Naromee fühlen und als ihre Inkarnationen gelten. Sechs von ihnen machten sich bereits auf den Weg, ein beschriebenes Orakel zu suchen, dass ihnen die Erinnerungen Naromees zurückgeben kann. Doch keiner von ihnen kehrte wieder. Ardoana, die sechste Inkanation hinterließ immerhin ein Reisetagebuch. Und nun soll Ardoas, die siebte Inkarnation, diese Aufgabe erfüllen und endlich die Erinnerungen bekommen. Seine Familie fürchtet jedoch um sein Leben. Sie bilden ihn zum Gelehrten und Kämpfer aus, lassen ihn jedoch nicht vor die Grenzen seines Heimatorts Ilbengrund. Bis zu seinem 32 Geburtstag, seiner Volljährigkeit.

Spurensuche und Gemeinschaft

Tante Zordura nimmt den vom Schicksal Auserwählten zu sich und schickt ihn auf die Reise. Ardoas folgt den Spuren seiner Vorgängerin Ardoana und trifft Menschen, die sie auf ihrem Weg unterstützten. Ardae von Yannau vermisst seit einigen Jahren ihren Bruder Daludred. Er nahm zwei Chroniken aus der Bibliothek mit Hinweisen auf das Orakel mit, denn er verfolgte dasselbe Ziel wie Ardoas: das Orakel zu finden. Er jedoch wollte es studieren und selbst zu einem Orakel werden.

Ardoas erhält wertvolle Hilfe und Hinweise, muss sich aber auch Mordanschlägen und gleich mehrerer feindlicher Gruppen erwehren. Ohne die Söldnerin Jerudana Yelenfurt und Daludred von Yannau wäre seine Mission früh gescheitert. Doch mit diesen Gefährten, die ihm Geliebte werden, kommt er dem Ziel immer näher.  

Klassisch: Welt und Queste

Bezüglich des Weltenbaus ist „Das Erbe der Elfenmagierin“ klassische High-Fantasy. Den Kontinent Alvaredur, der auf einer Karte auf der Innenseite des Covers abgebildet ist, wirkt europäisch: bewaldete Gebirgszüge auf der Ostseite und eine Tiefebene im Westen. Im Norden grenzt das Vrabilische Meer an die nördlichen Königreiche. Die Herrschaftsstruktur entspricht einer Feudalherrschaft, ähnlich wie man es aus Tad Williams, Tolkiens und George R. R. Martins Werken kennt. Auch die Storyführung erinnert zunächst an die Klassiker und entspricht der Genre-typischen Queste, die eine Gemeinschaft auf eine Heldenreise schickt und mit tödlichen Gefahren konfrontiert.

Progressiv: die Gesellschaft der Elfen

In den sozialen Medien kennzeichnet „Das Erbe der Elfenmagierin“ das Hashtag #ProgressivePhantastik, trotz des klassischen Settings durchaus zu Recht. Denn Sullivans Gesellschaft der Elfen ist genau das: progressiv. Den Elfen fehlt die uns dominierende binäre Unterteilung der Geschlechter in weiblich und männlich. Vielmehr sind Personen mit trans- und nicht binären Geschlechteridentitäten keine Ausnahmeerscheinungen, sondern alltäglich. Die Sprachen Alvaredurs entwickelten Begriffe wie Asvaruwyn (nicht binäre Person mit maskulinem Körper), oder Yelenide (nicht binäre Person). Eine progressive Diversität prägen auch die Beziehungsformen, die Elfen eingehen. Homosexuelle und polyamore Beziehungen sind in der elfischen Gesellschaft genau so üblich und vertraut, wie Heterosexualität und Monogamie. Ihr Miteinander prägt bedingungsloses Vertrauen, anstelle von Eifersucht und Machtanspruch, ein wesentliches Merkmal der Elfen, das der Autor eindrucksvoll herausarbeitet.

Vielfältig: die Figuren

Den Protagonisten Ardoas kennzeichnet zunächst eine innere Zerrissenheit. Obwohl er als Kämpfer und Gelehrter für die Queste perfekt ausgebildet wurde, kann er nur verlieren. Sechs Inkarnationen sind an der Aufgabe, Naromees Erinnerungen zurückzuholen, gescheitert und gestorben. Seine Eltern bringen es nicht über sich, ihn auf die alternativlose Reise zu schicken und überlassen seiner Tante Zordura diese undankbare Aufgabe. Ardoas‘ vertrauensvolle und ehrliche Art öffnet ihm die Toren zu Menschen, die bereits seiner vorherigen Inkarnation helfen konnten. Jedoch erst als er mit Jerudana und Daludred reist, wagt er zu hoffen, dass sie zusammen das Orakel finden und die Erinnerungen erhalten.

Jerudana Yelenfurt durchläuft die gravierendste Entwicklung in der Geschichte. Sie ist eine Söldnerin und versteht sich auf das Kämpfen, Planen von Einsätzen und Anführen von Soldaten. In Ardoas‘ und Daludreds Gesellschaft kommt ihre Empathie zum Vorschein und sie entdeckt magische Fähigkeiten, die man ihr stets abgesprochen hatte. Daludred hingegen würde aufgrund seiner Ängste und übervorsichtigen Art vielleicht als Feigling gelten. Doch er findet an der Seite seiner Gefährt:innen den Mut, seine Ängste zu überwinden und rettet die Mission mit seiner Gabe der Voraussicht.

Vermisst: ein wenig mehr historischer Hintergrund

„Das Erbe der Elfenmagierin“ erzählt einerseits eine Queste, andererseits die Geschichte einer polyamoren Beziehung. Sullivan beschreibt ausführlich die Entwicklung einer tiefen Vertrautheit und Intimität zwischen einem Elfen und zwei Menschen. Auch auf die Besonderheiten ihrer Liebe in Bezug auf ihre unterschiedlichen Lebenserwartungen geht er ein. Die Charakterisierung der Gemeinschaft ist hier wichtiger als die der einzelnen Figuren.

Der historische Hintergrund der Elfen wird allerdings recht rudimentär erläutert und geht nur wenig über die Informationen in Naromees Zitat am Anfang des Romans hinaus. Der Autor geht nicht näher darauf ein, was sich die Elfen konkret von der Rückkehr der Erinnerungen versprechen. Fühlen sie sich ohne diese Erinnerungen ihrer Wurzeln beraubt? Ist es ihnen nicht möglich, sich in Alvaredur heimisch zu fühlen, weil sie die Ursprünge ihres Volkes gern mit anderen Völkern teilen möchten? Diese Fragen drängen sich auf, werden aber lediglich zwischen den Zeilen angedeutet. Vielleicht erfahren wir im zweiten Band „Das Orakel in der Fremde“ etwas mehr über die Elfen.

Fazit

„Das Erbe der Elfenmagierin“ ist erhellend und mitreißend geschrieben und somit ein echtes Lesehighlight. James A. Sullivan schreibt in einem Stil, der durch Präzision besticht und sich mit einem Hauch Poesie schmückt. Seiner eindrücklichen Schreibe könnte ich ohne Pause über tausenden von Seiten folgen. Mit etwas mehr Hintergrundwissen wäre ich noch tiefer in diese wundervolle Welt und Geschichte hinabgetaucht. Auf die Fortsetzung der „Chroniken von Beskadur“, „Das Orakel in der Fremde“, freue ich mich und bin überaus gespannt, wie das Abenteuer weitergeht und welches Schicksal die Protagonist:innen ereilen mag.

Eva Bergschneider

Das Erbe der Elfenmagierin
Die Chroniken von Beskadur, Band 1
James A. Sullivan
Fantasy
Piper
September 2021
Buch
448
Stephanie Gauger, Guter Punkt
80

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