Das Kunstwerk vom Täuscher
„Dies ist kein Abschied, denn ich war nie willkommen.“ (aus „Im Ascheregen“ – Casper)
Felix verschwindet nach seinem Abitur, kurz bevor er seine Heimatstadt Berlin in Richtung Frankfurt verlassen wollte. Es geschieht in Dornheim, dem Sommerferienort der Familie Heller. Felix hat hier mit seiner Mutter Agnes, der Schwester Louise und seinem Freund Paul viele Ferien verlebt. Zehn Jahre später ist noch immer völlig unklar, was mit Felix geschehen ist. Ist er tot, oder lebt er nun woanders?
Die Zurückgebliebenen kommen nicht über den Verlust hinweg. Louise beginnt ein Studium, bricht es aber wieder ab, backt und verkauft nun Cupcakes und lebt vom Geld ihrer Mutter. Agnes ist Professorin und ausgerechnet nach Frankfurt gezogen. Von ihrem Mann Simon hat sie sich längst getrennt und ihn nach Island ziehen lassen. Paul hat sein Germanistik-Studium durchgezogen und wartet nun darauf, eine Doktorandenstelle anzutreten. In der Zwischenzeit fotografiert er in Prag und trifft dort – Felix.
Jedenfalls glaubt Paul das. Der Mann nennt sich Ira Blixen, ist Künstler und hat keinerlei Erinnerungen an seine ersten zwanzig Lebensjahre. Dabei sieht er Felix nicht einmal ähnlich. Es sind die Haltung, die Bewegungen und ein sternförmiges Muttermal, die Paul davon überzeugen, er habe seinen Freund wiedergefunden. Paul bittet Ira Blixen, mit ihm nach Berlin zu kommen. Doch der möchte nicht, ist angeblich froh, sich endlich ein Leben aufgebaut und ständige Fragen, woher er komme, hinter sich gelassen zu haben. Doch als Paul sich zurück in Berlin gerade von einem schweren Fieber erholt, steht Blixen vor seiner Wohnungstür und zieht ein. Zwischen ihm, Paul, Louise und Agnes beginnt ein Spiel, das aus „Rate wer ich bin“, „Scharade“ und „Leute erschrecken’ zusammengesetzt scheint.
„Das Fremde Meer“, der erste Roman von Katharina Hartwell, hat mich überrascht wie nicht viele andere Bücher. Die gesamte Buchkomposition als Kurzgeschichten-Roman aus verschiedenen Story-Bausteinen zusammengesetzt und zu einer bewegenden ganzheitlichen Geschichte verschmolzen, war ein Erlebnis. Das alles hat die Autorin in einer Sprache, die wie pure Poesie und doch äußerst präzise ist, eingefangen. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an das nachfolgende Werk der Autorin „Der Dieb in der Nacht“. Vielleicht zu hoch?
Katharina Hartwell ist ihrem Hang zum Phantastischen treu geblieben, obwohl „Der Dieb in der Nacht“ keinerlei phantastische Elemente beinhaltet. Doch dazu später mehr. Die Handlung wird personal aus der Sicht von Paul und Louise erzählt, zum Ende des Romans auch aus der von Agnes. Immer wieder schwenkt die Erzählung in die Vergangenheit und so erfahren wir von jedem, welches Verhältnis er zu Felix hatte, und wie er den letzten Tag mit ihm erlebt hat. Besonders im Fokus steht Paul, der anfangs nur ein Freund von Felix und seiner Familie war und mit den Jahren zu deren Mitglied wurde. Zehn Jahre nach dem Schock, den Felix‘ Verschwinden ausgelöst hat, konfrontiert er die Hellers mit dem Künstler aus Prag. Weil er ihn für Felix hält.
Die Frage, ob Ira Blixen Felix ist oder nicht, gerät jedoch immer mehr in den Hintergrund. Im Mittelpunkt stehen zunehmend die Beziehungen der Protagonisten zueinander und wie sich diese unter dem manipulativen Einfluss Blixens verändern. Gestaltet sich am Anfang das Zusammenleben Pauls mit Ira Blixen noch herantastend und freundlich, entwickelt sich mehr und mehr eine unterschwellige Angst und schließlich etwas „Übergriffiges“, ein Wort, das Paul mehrfach verwendet. Auch Louises Lebensgerüst wird von Blixen demontiert. Ihr eigenständiges Leben in der Wohngemeinschaft gibt sie auf, zieht bei Paul und Blixen ein und entwickelt ebenfalls Angstzustände. Ira Blixen wirkt gezielt auf menschliche Schwachstellen ein, hält seinem Gegenüber ein Spiegelbild vor, das derjenige nicht sehen will und reflektiert dessen Schattenseiten. Blixen wirkt wie ein Vampir, der Leben aussaugt oder wie eine Spinne, die Menschenopfer einwickelt. Eine Spirale aus Einengung, Misstrauen, Lähmung, und Angst bringt Paul und Louise an den Rand ihres Selbst. Katharina Hartwell braucht keine Schock- oder Gruselelemente, um Beklemmung zu erzeugen. Ihre klare, prägnante Sprache mit eindringlich düsteren Bildern reicht aus, um ein Horrorszenario und eine surreale, verstörende Atmosphäre heraufzubeschwören. Insofern ist auch ihr zweiter Roman Phantastik.
Viele der Leser, die sonst voll des Lobes für „Der Dieb in der Nacht“ sind, äußern sich kritisch zum Ende des Romans und haben eine andere Auflösung erwartet. Dabei wäre kein alternatives Ende möglich gewesen, denn gegen Blixens psychologisches Spiel setzt sich niemand zur Wehr. Niemand sucht nach des Rätsels Lösung, denn die Opfer des Täuschers sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Was schwer nachvollziehbar ist und die Handlung im Mittelteil tatsächlich etwas langatmig macht. In „Das Fremde Meer“ hat die Autorin mit ähnlichen Storyelementen gearbeitet. Doch die Verdichtung in das Format von Kurzgeschichten hat solche Längen vermieden. Das ist allerdings Meckern auf hohem Niveau und tut dem positiven Gesamteindruck wenig Abbruch. Katharina Hartwell hat mit „Der Dieb in der Nacht“ wieder einen komplexen und nachhaltigen Roman geschrieben, in dem allein schon die sprachliche Ausdruckskraft außerordentlich und ein Hochgenuss ist. Es gibt Romane, aus denen sollte man lieber nicht zitieren und „Der Dieb in der Nacht“ ist ein solcher. Denn man würde doch nur ein Element aus einem Kunstwerk entfernen und beides seiner Schönheit berauben.
Diese Rezension von mir (Eva) erschien zuerst bei Booknerds.de
Phantastik-Plus
Berlin Verlag
August 2015
320
Funtastik-Faktor: 74