Mit dem Gesichtlosen auf Tuchfühlung
Hyde Park Nummer eins ist eine der teuersten Adressen in einer der teuersten Städte der Welt, London. Die Wohnungen der Superreichen sind eher Investitionen, denn Heime, es wohnt dort kaum jemand. Selbstverständlich sind die Apartments abgesichert wie eine Festung. Wie kamen also Jugendliche dort hinein, um eine Party zu feiern? Dazu noch mit Drogen, die das junge Leben des Teenagers Christina Chorley auslöschten. Eigentlich wäre der Fall keiner für Peter Grands spezielle Abteilung. Doch eine alte Bekannte, Lady Tyburn, die ihm einst (siehe „Ein Wispern unter Baker Street) das Leben rettete, verlangt nun eine Gegenleistung. Peter soll dafür sorgen, dass Partygast und Tochter Olivia von Scherereien verschont bleibt. Trotzdem muss der Constable herausfinden, wie die Gruppe in die Partylocation und an die Drogen herankam
Zeitgleich bietet Kleinganove und Fae Reynard Fossman, der Fuchs, dem Folly ein seltenes magisches Buch an: „Jonathan Wilds letztes Rechnungsbuch“. Es soll Hinweise auf die „Philosophiae Naturalis Principia Artes Magicis“ von Sir Isaac Newton, dem Gründer des Folly, enthalten. Hinter diesem Werk sind Amerikaner her, die es in einer eBay-Auktion entdeckten. Eingestellt hat es Phoebe Beaumont-Jones, die ebenfalls zu den Partygästen gehörte. Die Spur der Drogen und des Buchs führen vorbei an der grausam entstellten Leiche eines Drogendealers und über ein Pub an einem geschichtsträchtigen Ort zum Gesichtslosen. Der endlich Fehler begeht und in Zugriffsnähe rückt.
Leichte Abnutzungserscheinungen und zu viel Recycling
In Band sechs „Der Galgen von Tyburn“ tritt endlich wieder der Gesichtslose auf, für Peter Grand und seinen Boss Nightingale der ultimative Gegner wie Moriarty für Sherlock Holmes. Ben Aaronovitch lässt den Antagonisten in jedem zweiten Band dieser Reihe auftreten. Nachdem der fünfte Band „Fingerhut-Sommer“ von einer weniger spektakulären Landpartie erzählte, freute ich mich darauf, dass es nun wieder zur Sache geht.
Bis sich jedoch der entscheidende Showdown anbahnt, vollführt die Handlung einen Zickzack-Kurs. Einerseits auf der Suche nach dem Ursprung jener verhängnisvollen Drogen, andererseits nach dem Buch, das in den falschen Händen zum Verhängnis würde. Peter bekommt es mit einer magiebegabten Mädelsclique und US-Hexern im Format eines Jack Bauer zu tun. Es gilt Wassermassen zu entkommen, die Häuser unter sich begraben und magische Gefechte im Harrods-Konsumtempel auszutragen. An Action besteht eigentlich kein Mangel und doch fehlt ein spektakulärer finaler Kampf, der bisher jeden Band beendete. Der Gesichtslose erhält zwar endlich ein Gesicht und fühlt den Atem von Peter und Nightingale in seinem Nacken. Gerade weil hier der Bösewicht endlich Konturen erhält, wäre viel mehr mystische Spannung möglich, wenn nicht gar unerlässlich gewesen. Stattdessen verläuft die finale Jagd im Wesentlichen erwartungsgemäß, ohne große Überraschungsmomente. Wo bleibt der Mut, eine Figur einen völlig unvorhersehbaren Weg einschlagen zu lassen? Stattdessen verweist die Geschichte ein bisschen zu oft auf die Höhepunkte der vergangenen Bände, ohne selber welche hervorzuzaubern. Es ist nicht zu übersehen, dass sich das Serienkonzept langsam abnutzt und eine Weiterentwicklung gebrauchen könnte.
Andere typische Aaronovitch Qualitäten, insbesondere seinen Sprachwitz finden wir auch in „Der Galgen von Tyburn“. Auf nerdisch akribische Beschreibungen der Polizeiarbeit und der Londoner Architektur, sowie Fingerzeige auf Dr. Who und Tolkien, muss der Leser nicht verzichten. Schön ist, wie barrierefrei Aaronovitch die multikulturelle Gesellschaft Londons in Szene setzt. Peters Partnerin Guleed ist Muslimin und tauscht ganz selbstverständlich den Hidschāb gegen die Sturmhaube. Allerdings fällt der historische Hintergrund zum Titel, der im englischen Original „The Hanging Tree“ lautet, vergleichsweise mager aus. Zudem ist dieser Schauplatz für die Story merkwürdig nebensächlich, was schade ist. Der Ort hätte wesentlich mehr schaurig schöne Geschichten zu erzählen, als ein Luxuswohnhaus am Hydepark. Auch die handlungsinterne Logik lässt zu wünschen übrig, als die US Truppe vor der MET das heiß begehrte Werk auf eBay aufstöbert. Auch die Londoner Polizei mag Fehler machen, dies ist jedoch hier kein Thema.
Fazit
Obwohl „Der Galgen von Tyburn“ wieder einen originellen Mix aus Krimi und Urban-Fantasy präsentiert, bleibt ein etwas fader Eindruck haften. Einfach weil man von Ben Aaronovitch noch besseres gewohnt ist und dieser sechste Band einiges an Potential verschenkt hat.
Eva Bergschneider
Peter Grant oder Die Flüsse von London
Urban-Fantasy
dtv
November 2016
416
Funtastik-Faktor: 65