Zeit und Erinnerungen im Fluss
Joe verlässt im Jahr 1898 am Bahnhof Gare Du Roi in Londres, den wir als Bahnhof King’s Cross in London kennen, einen Zug aus Glasgow. Er kann sich an nichts erinnern, lediglich daran, dass er Joe heißt und eine Dame namens Madeleine irgendwie mit ihm verbunden ist. Die französischen Namen in London empfindet er als falsch. Ein Mann nimmt sich seiner an und veranlasst einen Transport in die Psychiatrie. Dort wird eine Epilepsie festgestellt, die zu Gedächtnisverlust führt und gerade viele Menschen befallen hat. Joe muss einfach glauben, dass er Leibeigener von Monsieur Saint-Marie und Ehemann von Alice ist und in einem Haus in Clerkenwell lebt. Er hätte sich vielleicht mit diesem Leben abgefunden, wenn ihm nicht eine Postkarte zugestellt worden wäre. Die Postkarte zeigt einen Leuchtturm auf Eilean Mòr, einer Insel der Äußeren Hebriden. Im Jahr 1805 wurde sie abgeschickt und 93 Jahre für ihn aufbewahrt. Beschriftet ist sie mit der Nachricht:
Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M
S. 42
Monsieur de Méritens stellt Joe als Techniker ein. Zwei Jahre und drei Monate später, Joe ist inzwischen Vater der kleinen Lily geworden, die er wie nichts auf der Welt liebt, schickt ihn sein Chef nach Eilean Mòr. Er soll den Leuchtturm reparieren und eine Weile dort als Leuchtturmwärter bleiben. Der Turm ist verlassen, drei Wärter verschwanden auf mysteriöse Weise. Joe sieht seine Chance gekommen, endlich mehr über seine Herkunft und über Madeleine zu erfahren. Doch anstatt Antworten zu erhalten, wird Joe mit weiteren seltsamen Fragen konfrontiert: Warum sieht der Leuchtturm mal neu und mal alt und zerfallen aus? Warum hört Joe dort Stimmen von Menschen, die nicht da sind? Und wer ist der Mann, der ihn zunächst vor einer Entführung in die Vergangenheit warnt und ihm diese anschließend selbst antut?
Das Schildkröten-Paradoxon und eine britische Alternativhistorie
Die meisten Science-Fiction Fans dürften sich schon einmal mit dem Thema Zeitreise beschäftigt haben. Seit H.G. Wells „Die Zeitmaschine“ kennen wir das Großvaterparadoxon. Es beschreibt den Widerspruch der Annahme, dass ein Zeitreisender, der die Vergangenheit besucht, seine eigene Geburt verhindert, indem er seinen Großvater umbringt. Ein Paradoxon deswegen, weil es den Zeitreisenden der Ausgangssituation dann nicht geben dürfte. Unzählige Bücher und Filme beschäftigen sich mit dem Thema Zeitreise und deren Folgen für historische Ereignisse. Andere Geschichten wiederum umgehen das Problem, wie zum Beispiel William Gibsons „The Peripheral“ in der voneinander unabhängige Zeitlinien erschaffen werden. Oder Douglas Adams „Anhalter“ Reihe, die das Paradoxon zum grammatikalischen Problem erklärt. Natasha Pulley hat sich in „Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ für den klassischen Ansatz entschieden: Joe fürchtet die Konsequenzen seines Handelns in der Vergangenheit.
[..] immerhin würde er nicht einfach verschwinden. Alice hingegen womöglich schon. Monsieur Saint-Marie, de Méritens, Lily. Auch sie würden verschwinden, falls die Engländer diesen Krieg gewannen.
S. 171
Was dies bedeutet, demonstrieren sein Entführer Kite und dessen Schwester Agatha mit Hilfe von Schildkröten, die eine Zeitdifferenz von 93 Jahren überleben. Tötet man in der Vergangenheit eine Jungschildkröte, die 93 Jahre in der Zukunft existiert, verschwindet diese. Und so ähnlich ergeht es dem britischen Empire. Was hier so simpel klingend zusammengefasst wurde, beschreibt Natasha Pulleys Roman als vielschichtiges Abenteuer auf mehreren Zeitebenen und mit einer Verkettung unterschiedlicher historischer und persönlicher Ereignisse. Und nur wenigen Konstanten, an denen sich Lesende ein wenig festhalten können.
Kantige Charaktere im Wandel der Zeit
Am liebsten hätte er Kite geschüttelt und verlangt, dass er entweder ein guter Mensch oder ein Scheusal sein solle, aber nicht diese unerträgliche Mischung aus beidem.«
S. 325
Eine dieser Konstanten ist die Figur des Missouri Kite, die man, wie Joe im Zitat, hassen und mögen möchte. Bereits in „Der Uhrmacher in der Filigree Street“ erschuf Natasha Pulley mit Grace eine Figur, der nicht gerade viel Sympathie entgegengebracht wurde. Mit Missouri Kite lernen wir einen weiteren, höchst zwiespältigen Charakter kennen, der sowohl eine rücksichtsvolle, als auch eine brutale Seite hat. Die Autorin unternimmt einige Ausflüge in die Vergangenheit der Figuren, was Lesende zunächst verunsichern mag. Nicht immer ist klar, ob diese Sprünge in die Vergangenheit nicht doch einen alternativen Zeitablauf darstellen. Hier hat Pulley es vielleicht zu gut gemeint mit dem „Show, don’t tell“ Ansatz. Erklärende Worte hätten möglicherweise ausgereicht und weniger Verwirrung gestiftet.
Zunächst stehen alternative Ausprägungen der Weltpolitik in der Zeit Napoleons im Vordergrund. Im weiteren Verlauf verschiebt sich die Perspektive mehr auf die persönliche Situation der Protagonisten. Joe erlebt schließlich ein persönliches Schleudertrauma an alternativen Leben und muss sich entscheiden, wann er hingehört.
Schreibkunst vom Feinsten
Der Winter kam im Sauseschritt übers Meer. Er fegte vom Westen heran und dahinter gefror das Wasser in einer klaren grauen Linie. Joe ging an den Rand des Kirchhofs, um anzusehen, wie er auf den Strand traf. [..] Nun eilte Fiona die Treppe herauf, und als ihre Mutter sie zehn Fuß links von der Kamera postierte, verstand Joe endlich, was sie da taten. Sie warteten darauf, dass Fiona ein Stück weit mit der Frostgrenze laufen konnte, mit dem Sommer noch vor sich und dem Winter schon im Nacken.
S. 100
Natasha Pulley gehört zu jenen Autor:innen, die so wortgewandt, bildhaft und schön formulieren, dass Lesende stets ein Bild vom Geschehen vor Augen haben. Auch die spritzigen und scharfzüngigen Dialoge machen Spaß und vermitteln eine lebendige, authentisches Atmosphäre, selbst in befremdlichen Situationen. Pulleys präzise und zugleich elegante Sprache trägt dazu bei, dass sogar die zeitreisebedingten Ursachen und Wirkungen überwiegend logisch und gut verständlich sind. Ein paar Zusammenhänge erschienen mir fragwürdig, wenige Szenen erforderten mehrmaliges Lesen. Angesichts der Komplexität dieser im Fluss befindlichen Welt gelang es der Autorin jedoch überraschend gut Zeit- und Handlungsebenen nachvollziehbar zu arrangieren. Und sie zu einem runden und schlüssigen Ende zu führen.
Fazit
Allein die wunderschöne, lebendige Sprache, die Natasha Pulley schreibt, ist ein guter Grund „Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ zu lesen. Der zuletzt zitierte Abschnitt ist bei Google-Books im Original zu finden. Der Vergleich beider Textpassagen zeigt, dass der Übersetzer Jochen Schwarzer hier exzellente Arbeit geleistet und sowohl die Detailverliebtheit als auch den Sprachwitz trefflich in die deutsche Sprache übertragen hat. Vor allem aber die klug entwickelte, turbulente und zugleich tief emotionale Geschichte zieht Lesende in ihren Bann. Trotz einiger etwas langwieriger Passagen im Mittelteil bietet „Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ Lesespaß pur, mit viel Stoff zum Staunen, Mitfühlen, Träumen und Nachdenken.
Eva Bergschneider
Triggerwarnung: Gewalt, Verbrennen, Töten von Menschen und Tieren, Verlustängste (Verlust von Bezugspersonen und bekannter Umgebung), Krieg
Science Fantasy
Hobbit Presse
September 2022
Buch
544
Birgit Gitschier
83
Schönen guten Morgen!
Ich mochte ja den Uhrmacher schon gerne – aber ich fand dass der Leuchtturm hier noch einen drauf setzt!
Das Paradoxon ist ja immer ein Problem, aber ich finde, dass sie es hier sehr gut gelöst hat. Auch wenn ich nicht immer alles so klar verstanden habe, hat mich das überhaupt nicht gestört, auch nicht bei den Zeitsprüngen der Figuren. Ich mag das eigentlich, wenn ich nicht immer sofort weiß, was und warum – sondern erst nach und nach draufkomme. Das macht oft den Reiz aus – für mich 🙂
Die Figuren sind wirklich ganz außergewöhnlich und der Schreibstil sowieso! Ich fand es sehr genial!
Liebste Grüße, Aleshanee
PS: Bei der Triggerwarnung stehen Zeitreisen – darf ich fragen, warum?
Liebe Aleshanee, entschuldige, dass ich jetzt erst antworte, ich war eine Weile außer Gefecht gesetzt. Für mich müssen sich auch nicht immer alle Rätsel logisch auflösen, auch mich reizt das Mysteriöse und Geheimnisvolle. Aber dafür dass der Zeitreiseplot derart verzwickt daherkam, hat sie ihn erstaunlich schlüssig aufgelöst, finde auch ich. Was die Triggerwarnung angeht: ich nehme die Zeitreise raus, der Begriff ist hier zu ungenau. Ich versuche etwas zu finden, was besser ausdrückt, was ich meine. DANKE für Deinen Kommentar und Liebe Grüße, Eva