Eine feinsinnige Begegnung zwischen Empire und Japan
London, Oktober 1883. Ein Abstellraum im Innenministerium wurde zur Telegrafieabteilung umgebaut. Dort ist es bitterkalt, sodass die nächtliche Tasse Tee die hocherwartete Freude des Telegrafisten Nathaniel Steepleton, genannt Thaniel, ist. Normalerweise kommen nach sechs keine Nachrichten mehr. Doch in dieser Nacht klickt ein Telegraf und bringt eine Bombendrohung – ein Anschlag auf öffentliche Gebäude genau in sechs Monaten wird angekündigt.
Thaniel kehrt in sein kärgliches Pensionszimmer zurück. Dort ist jemand eingebrochen, hat sein Geschirr abgewaschen und eine goldene Taschenuhr auf dem Bett hinterlassen. Weder funktioniert sie, noch lässt sie sich öffnen. Als sie ein halbes Jahr später zu laufen beginnt und ihm das Leben rettet, sucht er den Uhrmacher auf. Und lernt den Japaner Keita Mori kennen.
In der Ladenwerkstatt in der Filigree Street erwachen bei Thaniels Eintritt unzählige mechanische Spielereien zum Leben und außergewöhnliche Uhren ticken an den Wänden. Mr. Mori kommt mit zwei dampfenden Teetassen herein. Thaniel hat noch nicht bemerkt, dass er verletzt ist. Der Uhrmacher verbindet ihn und lässt ihn im Gästezimmer schlafen. Es rappelt im Schubfach und heraus kommt Katsu, der mechanische Oktopus.
Thaniel zieht in das Zimmer zur Untermiete ein, nicht nur gedrängt von Scotland Yard. Wer könnte verdächtiger sein als ein Uhrmacher, der eine Taschenuhr gebaut hat, die kurz vor dem Bombenanschlag wie eine Sirene losgeht?
Meisterhafte Lakonie
Von Anfang an erzählt Pulley sparsam. Bedeutsame emotionale Befindlichkeiten stellt sie durch scheinbare Nebensächlichkeiten dar: in der Art und Weise, wie die Figuren sich bewegen, wie sie miteinander sprechen. Kurz und knapp und doch stets auf dem Punkt. Für mich ist das Buch ein Lehrstück über „Show don’t tell“. Nicht Sachen zu behaupten, sondern durch Handlungen sichtbar zu machen. Das ist ihr meisterlich gelungen. Eine weibliche Hauptfigur führt sie ebenso ein. Physikstudentin Grace „borgt“ sich bei ihrem besten Freund, dem Japaner Matsumoto, ein Jackett. Damit kann sie in der Bibliothek als „Mann“ Bücher studieren. Grace ist der schwarze Peter der Geschichte und vor allem im späteren Teil fungiert sie als Katalysator. Ihre Aussagen zum Frauenwahlrecht sind haarsträubend.
Die Dialoge in dem Buch sind über weite Strecken nur köstlich. Der Lesende/Hörende wird ständig gezwungen, zwischen den Zeilen zu lesen. An dieser Stelle kommt das Hörbuch ins Spiel, das leider nur ansatzweise funktioniert. Diese verbalen Seitenhiebe, die sprachlichen Köstlichkeiten, die vielen Kleinigkeiten, die für das Wesen dieses großartigen Romans jedoch unabdingbar sind, gehen in dem Hörbuch leider ziemlich unter. Dabei macht Sprecher Jonas Minthe seinen Job gut. Um zur Elite zu zählen, braucht er noch mehr Erfahrung. Tatsächlich habe ich mehrere Kapitel nachgelesen, um meine inneren Bilder bunter und inniger zu erleben.
In Kommentaren zu „Der Uhrmacher in der Filigree Street“ taucht auf, dass es zäh sei, nicht stringent der Bombenanschlag aufgeklärt würde. Das haben wohl eher Leute geschrieben, die einen klassischen Krimi erwartet haben mit einer abenteuerlichen Verbrecherjagd und schnellen Szenen und Szenenwechseln. So etwas passiert hier in der Tat nicht und trotzdem habe ich mich bei keinem Satz gelangweilt.
Interessanter historischer Hintergrund
Der Roman spielt zu einem großen Teil in Japan und erzählt Episoden aus der Lebensgeschichte von Keita Mori. Beide Schauplätze sind von der politischen Situation durchdrungen, die in den jeweiligen Staaten herrscht – Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts. Der 19-jährige japanische Kaiser strebt die Öffnung zur Welt an, während in Großbritannien die Iren für ihre Unabhängigkeit kämpfen. Die frühe Industrialisierung, die erste in größerem Maßstab genutzte Elektrizität und das Maschinenzeitalter, das zügig auch nach Japan schwappte, bilden den Boden der Erzählung. Eine eindrückliche Szene ist die Fahrt mit der ersten U-Bahn der Welt, der Tube, die damals noch mit Dampflokomotiven befahren wurde. Die Bahnhöfe waren voller Ruß und Gestank und so kamen die Passagiere dann auch heraus. Doch es war eben ein schnelleres Verkehrsmittel, als Droschken zu nehmen oder zu laufen.
»„Ehre heißt, die eigene Familie zurückzulassen, weil einem das eigene Gewissen wichtiger ist. Dieser Ort bringt so etwas hervor.“ [S. 106]«
Dies Buch handelt von Freundschaft, von der Verbundenheit von Seelen, gleichgültig wo sie ursprünglich herkommen. Beide, sowohl Thaniel als auch Mori sind hochsensibel, doch wird das an keiner Stelle so explizit ausgedrückt. Thaniel ist Synästhet, sieht Farben und Bilder zu Tönen und Geräuschen. Dadurch weiß er meist, was richtig oder falsch ist, erkennt Lügen, Missstimmungen und Widersprüche. Mehr über die Besonderheiten der Protagonisten könnt ihr im Interview mit Natasha Pulley nachlesen.
Jochen Schwarzer, bekannt für seine ausgezeichneten Stephen King Übersetzungen, hat bei diesem Buch viel Feingefühl bewiesen und die sprachlichen Finessen ausgezeichnet ins Deutsche übertragen.
Bitte mehr von Natasha Pulley
Natasha Pulley gewann mit „Der Uhrmacher in der Filigree Street“, ihrem Debütroman, den Betty Trask Award, der einen Siegeszug um die Welt antrat. Deutsch ist die zehnte Sprache, in die das Buch übersetzt wurde. 2020 erschien bereits der Nachfolgeband auf englisch. „The lost Future of Pepperharrow“: Thaniel wird unerwartet nach Tokio versetzt und soll das Rätsel um Geistererscheinungen lösen. Zeit, Schicksal und Liebe prallen aufeinander. An alle Chefs der Hobbit Presse: Wir möchten diesen Roman und ihre weiteren gerne auch in deutscher Sprache lesen und hören!
Amandara M. Schulzke
Dilogie um Thaniel und Mori, Band 1
Steampunk
Hobbit Presse
September 2021
Buch, Hörbuch
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Birgit Gitschier
95
Bei „Show don’t tell“ hattest du mich schon. Ich bin froh, wenn ein Autor ob Buch oder Film, sein Handwerk versteht. Und sie bringt so viel Erfahrung aus verschiedenen Bereichen mit. Das kann doch nur gut sein, oder? Dann die Epoche, Steampunk, die wunderschönen Charakternamen. Ich bin viel zu neugierig auf das Buch, um es weiter auf der Wunschliste zu lassen. Danke für deine reflektierte Rezension liebe Amandara.