Der Räuberbräutigam – Eudora Welty

Satirisches Märchen über den Weg von der Wildnis in die bürgerliche Gesellschaft

Der Räuberbräutigam© Klett-Cotta
Der Räuberbräutigam © Klett-Cotta

Clement Musgrove, ein Pflanzer aus Louisiana, hat es zu Grundbesitz und Wohlstand gebracht. Nachdem er Tabak an Briten verkauft hat, verbringt er auf der Heimreise eine Nacht in einer Herberge. Er teilt das Bett mit zwei ihm unbekannten Männern, dem Räuber Jamie Lockhart und dem Flachbootmann Mike Fink. Der betrunkene Mike versucht die beiden Männer zu töten, Jamie rettet Clement das Leben. Am nächsten Morgen trennen sich ihre Wege. Clement kommt mit Geschenken heim zu seiner zweiten Frau, der hässlichen Salome, und seiner schönen Tochter Rosamond, die ein wunderbares grünes Kleid bekommt. Salome hasst ihre Stieftochter und schikaniert sie, wenn Clement unterwegs ist. Eines Tages kehrt Rosamond nackt vom Kräutersammeln im Wald zurück. Sie wurde von dem ihr unbekannten Jamie, der sich mit Beerensaft unkenntlich gemacht hat, ausgeraubt. Clement bittet Jamie, den Unhold zur Strecke zu bringen, der seine Tochter überfallen hat. Im Gegenzug soll Jamie Rosamond heiraten dürfen, die allerdings total verschmutzt ihm gegenübertritt, weshalb er sie nicht erkennt.

Der Schein mag täuschen, ist aber schöner als die Wirklichkeit

Im Grimmschen Märchen gleichen Titels gibt ein Müller seine Tochter einem Mann zur Frau. Sie liebt ihn nicht, fürchtet sich vor ihm. Als sie in sein Haus kommt, spricht ein Vogel zu ihr:

„kehr um, kehr um, du junge Braut, du bist in einem Mörderhaus“.

Die Räuberbande frisst Jungfrauen, die Tochter kommt davon und die Räuber werden vor Gericht gestellt und bestraft. Dieses Märchen ist eine von zwei wichtigen Vorlagen für die Erzählung Eudora Weltys, die noch mehr von den Gebrüdern Grimm eingewebt hat, darunter Szenen aus „Schneewittchen“, „Dornröschen“, „Rapunzel“, „Die Gänsemagd“ und „Von dem Fischer und seiner Frau“.
Die böse Stiefmutter benutzt den Nachbarsjungen Böckchen als Spion, der ihr über die Aktivitäten Rosamonds berichtet. Böckchen soll das Mädchen bei Gelegenheit ermorden, was aber misslingt. Er macht immer, was man ihm sagt. Und als der Rabe spricht:

„Kehr um, mein Liebling, geh zurück nach Haus.“

befolgt er die Anweisung.

Zu Beginn scheint es, als sei Clement die Hauptfigur der in dritter Person erzählten Handlung. Aber er verliert zunehmend an Bedeutung. Seine Begegnung mit Jamie, dem er beim Frühstück in der Stadt seine Geschichte erzählt, ist der Ausgangspunkt für die Begegnung der schönen Rosamond mit dem Biest Jamie. Welty greift als zweite wichtige Vorlage den Plotkern des Märchens „Die Schöne und das Tier“ von Madame Leprince de Beaumont, das 1757 als eine kurze moralische Erzählung entstand, auf und verbindet diesen mit dem Grimmschen Märchen.

Welty schreibt in ihrem Märchen über das Leben im Nordamerika um die Zeit des Unabhängigkeitskrieges. Es gibt riesige Wälder im alten Natchez-Gebiet, raubeinige Pioniere, wilde Indianer, die während einer Vergeltungsaktion Salome in ein Feld aus biblischer Geschichte und Naturreligion führen.
Der Räuberbräutigam wird als ein Märchen erzählt, durchsetzt mit surrealen Momenten, Humor und Unsinn, stilistisch exquisit. Eine Erwachsenengeschichte, mit Mord und Vergewaltigung und Misshandlungen und Verstümmelungen, die sich liest, als wäre sie an Kinder vor dem Zubettgehen gerichtet.

Die Geschichte beginnt in der sich entwickelnden Zivilisation, einer Stadt, von der aus der Handlungspfad in die Wildnis führt, in ein riesiges Waldgebiet, den idealen Ort für ein Märchen. Welty vermischt die romantische Komödie mit grauenhaften Ereignissen, die sich in Härte und Wildheit steigern, bis sich alles in einem grotesken Happy End auflöst. Das Böse in dieser Geschichte ist zielgerichtet und bewusst, das Gute hingegen, das sich beispielsweise in der Kraft der Vergebung äußert, wirkt zufällig, beiläufig, Ergebnis von Naivität in einer Welt, in der man sich nimmt, was man will, in der nur die Indianer festen Regeln zu folgen scheinen, in der der Wunsch nach Liebe zur Liebe als pragmatischer Lösung führt.

Identitäten werden bei Welty entwickelt, indem zuvor welche aufgelöst werden. Der Mensch, so absurd die hergestellten Zusammenhänge und Situationen bisweilen sind, ist nicht eindeutig bestimmt, sondern konkretisiert sich fallweise, ob mit oder ohne Maske, nicht immer jedoch über eine bewusste Wahlhandlung und in Kontrolle des eigenen Geschicks.
Weltys Märchen nimmt einen anderen Ausgang als das der Gebrüder Grimm, einen Ausgang, der damit einhergeht, dass es aus Weltys Sicht ein Leichtes ist, einen charmanten und gewalttätigen Räuber und Vergewaltiger in einen respektablen Kaufmann zu transformieren.

Nach der Lektüre dieser Geschichte könnte man in Abwandlung eines Diktums Rosseaus glauben: Der erste, der einem anderen etwas wegnahm und sich einfallen ließ zu sagen, es gehöre nun ihm, während die Beistehenden nickten, war der wahre Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.

Diese Rezension hat Gastrezensentin Almut Oetjen geschrieben – Vielen Dank!

Der Räuberbräutigam
Eudora Welty
Phantastik-Plus, Fantasy, Märchen
Klett-Cotta
September 2015
156

Funtastik-Faktor: 94%

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