Viel Leid und wenige Triumphe
72 Mitglieder der Besatzung fuhren auf der Gezeitenkind, als Joron Twiner noch deren Seefrau war. Nur das Fahren das falsche Wort ist, lag das Schiff damals heruntergekommen und kaum seefähig an der Küste im Wasser. Theoretisch hätte sich die verurteilte und auf die Schwarzen Knochenschiffe abgeschobene Besatzung durch herausragende Kämpfe und Heldentaten wieder in die Allgemeinheit zurückkämpfen können. Also quasi von den Toten auferstehen. Doch dies war seit Generationen auf den Hundertinseln nicht mehr vorgekommen.
Alles änderte sich, als Meas Gilbryn, auch die Glückliche Meas genannt, an Bord kam, um das Kommando zu übernehmen.
Unter ihrer Leitung verwandelte sich das bessere Wrack in einen Machtfaktor, befuhr die Wellen und griff entscheidend in die Machtspiele der Völker ein. Es galt den uralten Konflikt zweier seit Generationen feindlich gegenüberstehender Reiche zu entschärfen. Und den letzten Wachwyrm, aus deren Knochen einst die Schiffe gefertigt wurden, zu schützen. Unter großen persönlichen Opfern gelang immerhin ein Teil der abenteuerlichen Aufgaben.
Nun fährt die Gezeitenkind Patrouille und stößt auf ein fast havariertes Handelsschiff. Die Retter hatte man mehr als widerwillig an Bord kommen lassen. Und sie fanden unter Deck eingepfercht Menschen aus allen Ecken des Reiches. Keine Sklaven, sondern Bauern, Fischer, Händler, dazu eine Handvoll von Gullaimes. Wer hat sie hier eingekerkert und sendet sie in ein ungewisses Schicksal?
Kurz darauf erreicht die Besatzung eine Hiobsbotschaft: ihr Zufluchtshafen, ihr Refugium, ist gefallen. Joran wird ausgesandt, die Situation auszuspähen. Mit an Bord, Bootsleute, die ihn hassen und einige treue Seemänner und Seefrauen.
Nach und nach kommen sie einer Verschwörung auf die Spur. Einem Plan, der derart menschenverachtend und perfide ist, dass es selbst die leidgeprüften Menschen der Inselreiche davor graut.
Zusammenhalten und überleben
Dark- oder Grim & Gritty- Fantasy, so nennt man die etwas dunklere, realistischere Abart der Fantasy, die uns der Autor R. J. Barker in seinen Werken kredenzt. So auch in „Der Ruf der Knochenschiffe“, dem Mittelteil der „Gezeitenkind“-Trilogie.
Eine Welt, in der die Menschen oft vor sich hinvegetieren, in der Menschenopfer, Intrigen und Mordanschläge an der Tagesordnung sind. In der zwei Reiche um schwindende Ressourcen kämpfen. Und dies mit allen Mitteln. Ungünstig ist, dass sie weit mehr Kräfte verschleißen, als sie produktive Gewinne einfahren können.
Schon in seiner bei Heyne begonnenen Assassinen-Trilogie, deren dritter Band nicht mehr erscheinen wird, präsentierte uns der Verfasser markante, ungewöhnliche Figuren. Dies ist in der hier vorgestellten „Gezeitenkind“-Saga nicht anders.
Unser Erzähler, der Fischerssohn Joron, der für seine Rache die schwarze Binde nahm, ist kein wirkliches Heldenfutter oder eine charismatische Figur, dem der Leser (m/w/d) gerne ins Abenteuer folgt. Und doch erleben wir über ihn als Erzähler mit, wie seine Kameraden und er selbst aus ihrer Lethargie gerissen und zu einer Besatzung zusammengeschweißt werden. Der Ansporn geht von einer Frau mit Führungsqualitäten aus, die selbst vorangeht und durch ein gutes Vorbild ihre Untergebenen prägt. Dazu gesellen sich mit den Gullaimes, den Windflüsterern, dem Knochenmeister der sich um Rumpf und Rippen der Schiffe kümmert und dem Kursleger, die oder der das Wetter träumen kann, weitere Figuren hinzu, die sich vom dem Gewohnten massiv unterscheiden.
Sie alle haben es nicht leicht im Leben, werden bedroht, können jederzeit zur Hexe fahren. Dramatik wird großgeschrieben, für Leid und Not ist also gesorgt – für Triumphe weniger.
Selbst wenn einmal ein Plan gelingt, sind es keine wirklichen Siege. Denn für das Erreichen des Ziels sind stets herbe Verluste einzustecken. Wir treffen auf geschundene Kreaturen, die wenig Freude im Leben haben. Die einfach nur versuchen, ihre Überzeugungen und die Hoffnung nicht aufzugeben. Zu überleben.
Zu erwähnen ist, dass die Handlung in „Der Ruf der Knochenschiffe“ mit einem Cliffhanger abbricht. Wir wissen also bis zum Erscheinen des abschließenden Bands „Im Sog der Knochenschiffe“ nicht, ob und wie es mit unseren Seefrauen, weiblich wie männlich, weitergeht.
Nicht von ungefähr wirbt Robin Hobb für die Buchreihe. Auf andere Art als die große Fantasy-Autorin und doch irgendwie ähnlich präsentiert uns R. J. Barker seine Figuren, die er behutsam und glaubwürdig entwickelt. Dazu eine Welt, in der nicht oft die Sonne scheint, in der viele, in aller Regel gefährliche, ja lebensbedrohliche Geheimnisse lauern und die uns Lesende in ihren Bann zieht.
Carsten Kuhr
Gezeitenkind-Saga, Band 2
(Dark)-Fantasy
Panini Verlag
November 2022
Buch
636
Edward Bettinson
78