Der Untergang von Númenor – J.R.R. Tolkien, Hrsg. Brian Sibley

Dramatische „Rise and Fall“-Saga aus Tolkiens Welt

Der Untergang von Númenor - J.R.R. Tolkien, Brian Sibley © Hobbit Presse, schwarzer Hintergrund, rote Bauwerke im Vordergrund, das Bild einer gewaltigen Welle, die eine Stadt überschwemmt. Goldene und weisse Schrift.
Der Untergang von Númenor © Hobbit Presse

„Der Untergang von Númenor“ beschreibt in einer Mischung aus Sachbuch und Story-Band die knapp 3400 Jahre andauernde Geschichte der Insel Númenor. Der Herausgeber Brian Sibley stellte dafür Texte von J.R.R. Tolkien zusammen, die dessen Sohn Christopher zuvor in verschiedenen Büchern veröffentlicht hatte. So finden Lesende hier eine Reihe von bereits bekannten Texten aus dem „Silmarillion“, aus „Nachrichten aus Mittelerde“, aus der „History of Middle Earth“, sowie den Anhängen der „Der Herr der Ringe“ Romane. Dazu einige Briefe von J.R.R Tolkien an seinen Verleger Milton Waldman, die dem Buch „J.R.R. Tolkien Briefe“ von Humphrey Carpenter entnommen wurden.

Obwohl die Texte größtenteils bekannt sind, ist mit „Der Untergang von Númenor“ ein einzigartiges Werk entstanden, dass es vorher nicht gab: nämlich die komplette Geschichte Númenors aus dem Zweiten Zeitalter von Mittelerde. Nach einem Vorwort und einer ausführlichen Einleitung zur Einordnung der Texte und einer Abhandlung über die wesentlichen Aspekte des Ersten Zeitalters geht es mit dem Kapitel „32 [Jahreszahl] – Die Edain erreichen Númenor“ los.

Zunächst erfahren wir alles über die Geografie, die Natur von Númenor, sowie über die äußere Erscheinung, Lebensweise und Kultur der Númenorer. Durch das gesamte Buch ziehen sich eingeschobene Kurzbeschreibungen der jeweiligen Könige und Königinnen, beginnend mit Elros Tar-Minyatur, der Númenor vierhundertelf Jahre regierte. Anhand der Regierungszeit der Regenten folgen wir chronologisch der wechselhaften Geschichte der Insel: die glücklichen Jahre, die Zeit der aufkommenden Unzufriedenheit und Verbitterung der Númenorer, die Zeit der zunehmenden Konflikte unter dem Einfluss Saurons. Und schließlich den tragischen Untergang der Insel und der Wandlung der Lebensweise der Númenorer. In zeitgeschichtlich späteren Werken Tolkiens werden sie als Dúnedain bezeichnet.

Was zwischen „Silmarillion“ und „Der Herr der Ringe“ geschah

In all den Büchern, die bisher von Tolkien und posthum über seine epochale Welt Mittelerde erschienen sind, war das Zweite Zeitalter und das Schicksal Númenors weniger präsent als das Erste und das Dritte Zeitalter. Im „Silmarillion“ erfahren wir alles über den Entstehungsmythos Mittelerdes und das Erste Zeitalter. „Nachrichten aus Mittelerde“ ist eine Story-Sammlung, mit vielerlei Geschichten aus den drei Zeitaltern, die nicht in anderen Büchern erzählt werden. Unter anderem widmet sich dieser Band ebenfalls der Geschichte der Insel. Wer diese noch gut in Erinnerung hat, den wird „Der Untergang von Númenor“ vielleicht weniger begeistern, weil viele Texte aus diesen Passagen stammen. Wenn die „Nachrichten“ nicht gelesen wurden, oder die Lektüre schon eine Weile zurückliegt, dann ist „Der Untergang von Númenor“ bestens geeignet, tief ins Zweite Zeitalter und in die zunächst heitere und immer düsterer werdende Geschichte einzutauchen.

Endlich eine Geschichte über Frauen

Die Männer in Númenor sind halbe Elben (sagte Erendis), besonders die von hoher Geburt; sie sind weder das eine, noch das andere. [..]Sie wollen Künstler, Gelehrte und Helden auf einmal sein; und Frauen sind für sie nur wie ein Feuer auf dem Herd, auf das andere achtgeben, bis sie am Abend des Spiels müde sind. Alle Dinge sind nur dazu gemacht, ihnen zu Nutzen zu sein [..]. Frauen dienen den Bedürfnissen ihres Körpers, oder, wenn sie schön sind, der Zierde ihrer Tafel und ihres Heims.“

S. 185/186

„Der Herr der Ringe“ ist ein Buch über Männer, zumindest größtenteils. Das einzige Momentum für eine Frau ist die Szene, in der Éowin den Hexenkönig von Angmar tötet. Sonst treten die Protagonistinnen der Trilogie zwar klug und selbstbewusst auf, jedoch insgesamt selten und nicht wirklich handlungstragend.

In „Der Untergang von Númenor“ lernen wir Erendis und Ancalime kennen, Ehefrau und Tochter von Tar-Aldarion, dem sechsten König Númenors. Seine beiden Frauen verloren ihn an das Meer. Aldarions große Leidenschaft galt dem Schiffbau und der Seefahrt, Erendis hingegen liebte das Land und die Bäume, die ihr Ehemann für seine Schiffe abholzen ließ. Die ausgiebigen Seereisen nach Mittelerde hätten schon fast die Eheschließung verhindert. In der Ehe blieb Erendis mit Alcalime zu oft und zu lange allein zurück und verbitterte. Für die Thronfolge fehlte ein Sohn und so wurde die Verfassung der Insel geändert und ermöglichte fortan, dass Frauen zur Königin und Regentin ernannt wurden. Tar-Alcalime war die erste regierende Königin von Númenor und weitere folgten. Sie leitete eine Zeit der Isolation ein. Was zur Folge hatte, dass Sauron stärker wurde und zunehmend die Elben verführte.

Erendis und Ancalime brachen ein Stück weit aus der patriarchalischen Struktur der Monarchie Númenors aus und beeinflussten die Geschichte der mächtigen Insel. Hier besetzte Tolkien die Hauptrollen eines interessanten Teils seiner Geschichte mit Frauen.

Was eint und trennt „Der Untergang von Númenor“ und „Die Ringe der Macht“?

Aus „Der Herr der Ringe“ kennen wir Sauron als das ultimative Böse. Der Nekromant wird entweder als düstere, menschenähnliche Gestalt dargestellt, meistens aber als das berühmte lidlose, feuerrote Auge an der Spitze des Barad-dûr Turms. Im Zweiten Zeitalter zeigte sich Sauron als ein Mann mit angenehm anzuschauender, elfenähnlicher Gestalt. Er konnte dadurch seine wahren Absichten verbergen und selbst die Elben zu dunklen Künsten überreden. Sie schmiedeten die Ringe der Macht.

Die Frage um die Identität und Erkennbarkeit Saurons ist sowohl im Buch „Der Untergang von Númenor“, als auch in der Amazon-Serie „Die Ringe der Macht“ ein wichtiger roter Faden. Eine weitere Gemeinsamkeit ist der Handlungszeitraum, das Zweite Zeitalter. Aus der Geschichte Númenors wird in der Streaming-Serie eine Epoche wiedergegeben, in der das Verhältnis zwischen Númenor und dem König der Elben in Lindon bereits zerrüttet ist. Königin Míriel ist in der Serie die Regentin der Insel, was nicht der Vorlage Tolkiens entspricht. In „Der Untergang von Númenor“ wäre sie eigentlich nach der Reform des Gesetzes die 25. Königin geworden. Ar-Pharazon (Titel nun nicht mehr in der Sprache der Elben) heiratete Míriel gegen ihren Willen und riss unrechtmäßig das Zepter an sich.  

Alles, was Leben hat, nahm an jenem Tag Partei, und von jeder Art, selbst von den Tieren und Vögeln, fanden sich manche auf beiden Seiten, die Elben allein ausgenommen. Nur sie waren einig und folgten Gil-Galad. Von den Zwergen fochten auf beiden Seiten nur wenige, doch das Volk Durins von Moria focht gegen Sauron.“

S. 315

Insgesamt gibt in es der Handlung von „Der Untergang von Númenor“ und „Die Ringe der Macht“ nur wenige Überschneidungen. Die Atmosphäre des aufziehenden Bösen und die Zerrissenheit innerhalb der Völker finden wir wiederum in Serie und Buch. Selbst wenn sich die Elben, wie hier im Zitat beschrieben, in der finalen Schlacht geeint gegen Sauron stellten, so waren auch sie vorab zerstritten und an der Manifestierung seiner Macht beteiligt.

Hochwertig und wunderschön gestaltet

Mit 28 Euro ist die Hardcover-Ausgabe des Buchs nicht gerade günstig. Ein Blick auf die Kunstfertigkeit der Gestaltung lässt mich allerdings zu dem Ergebnis kommen, dass hier das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. Das Covermotiv zeigt eine riesige Wellte, die über eine alte Siedlung hereinbricht. Es gibt die düstere Atmosphäre des Buchs perfekt wieder. Im Inneren finden wir die Karte der Insel Númenor und eine Karte Mittelerdes wurde noch separat dazugelegt. Ein rotes Lesebändchen rundet den hochwertigen Eindruck ab. Vor allem aber sind es die wunderschönen Illustrationen von Alan Lee, die das Leseerlebnis zu etwas Besonderem machen. Zehn farbige und stimmungsvolle Bilder, sowie Grafiken am Beginn der Kapitel ergänzen die Geschichten und sind einfach wunderschön anzusehen.

Fazit

„Der Untergang von Númenor“ ist eine Sammlung von einzelnen Texten in chronologischer Abfolge. Es erzählt keine sich stetig entwickelnde Geschichte wie „Der Hobbit“ oder die „Der Herr der Ringe“ Romane. Es ist Brian Sibley gelungen, die Texte so geschickt zu verbinden, dass dennoch der Eindruck einer runden Geschichte über das tragische Schicksal Númenors zurückbleibt. Das Buch ist vor allem Lesenden zu empfehlen, die durch die Streaming-Serie „Die Ringe der Macht“ inspiriert wurden, zum ersten Mal oder wieder in den Kosmos Mittelerdes und der Erzählungen Tolkiens einzutauchen. Das Buch ermöglicht einen umfassenden und authentischen Einblick in das Zweite Zeitalter. Und erzählt eine dramatisch spannende Geschichte über ein Volk, das dem Paradies überdrüssig wurde und nach mehr verlangte, als das Böse auf es einzuwirken begann.

Eva Bergschneider

Triggerwarnung: Gewalt, Verführung, schlechte Behandlung von Frauen, Weltuntergangsszenen,

Der Untergang von Númenor
J.R.R. Tolkien, Hrsg. Brian Sibley, Übersetzung: Helmut W. Pesch
Fantasy
Hobbit Presse
November 2022
Buch
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Birgit Gitschier, Verwendung einer Illustration von Alan Lee, Illustrationen im Buch: Alan Lee,
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