Das Gemeinwohl der Menschheit gegen die Unschuld der Nachfahren
Die Menschen brachten die totale Apokalypse über den blauen Planeten Erde und verwandelten ihn in eine lebensfeindliche Wüste. In den 2130er Jahren entschied sich die Menschheit zu einem radikalen Schritt: dem Exodus auf den Mars und einem Gesetz, dass es fortan jedem Menschen unter Strafe verboten ist, nur einen Fuß auf die Erde zu setzen. Die Erde wurde „Der verbotene Planet“.
Stattdessen arrangieren sich die Menschen mit den schwierigen Lebensbedingungen auf dem Mars und schicken alle dreißig Jahre ein Raumschiff Richtung Erde, das ihre Regeneration untersucht.
Eines dieser Raumschiffe, Observation VI, verschwand und jegliche Suche nach den Vermissten verlief ergebnislos. Weitere dreißig Jahre später macht sich Observation VII auf den Weg und empfängt einen Notruf von der Erde. Captain Liv Heller und Security Agent Sida Ronalds landen auf der Erde. Und treffen auf Überlebende der Observation VI und deren Nachkommen, die widerrechtlich auf der Erde siedeln. Der ehemalige Captain Fawsett möchte seine an Krebs erkrankte Ehefrau Ann auf dem Mars therapieren lassen und für den Rest der Gemeinschaft auf der Erde ein Bleiberecht verhandeln. Doch nicht alle aus der ehemaligen Schiffscrew und deren Nachkommen sind mit seinem Handeln einverstanden. Und der Menschheitsrat auf dem Mars vertritt eine klare Position: Die Siedler auf der Erde sind Terroristen. Sie müssen sich dem obersten Gesetz beugen und zum Mars zurückkehren, oder sterben.
Was wäre, wenn die Erde unterginge?
Die Autorin Jacqueline Montemurri beginnt die Geschichte in „Der verbotene Planet“ an dem Punkt, als die Erdbewohner Collin und Sam auf die Besatzung der Observation VII treffen. Von der Vorgeschichte, die zu dieser Situation führt, erfahren wir im letzten Drittel des Romans noch ein paar Details, insgesamt jedoch wenig. Lesende müssen davon ausgehen, dass die totale Apokalypse auf der Erde bedingt durch menschengemachten Klimawandel und Überbevölkerung stattfand. Und aus diesem Grund die Menschheit auf den Mars umgesiedelt wurde. Einige Details dieser Ausgangssituation erscheinen schwer vorstellbar, zum Beispiel die Anzahl von sieben Milliarden Menschen, die umgesiedelt wurden. Wie sollten die auf dem kleineren und nicht minder lebensfeindlichen Mars überleben? Und wie und in welchem Zeitraum dorthin transportiert werden? Auf diese Fragen erhalten wir keinerlei Antwort, diese Prämisse gilt es hinzunehmen.
Darüber hinaus gibt es im Verlauf der Geschichte noch ein oder zwei weitere Details aus der Vorzeit, die fragwürdig erschienen. Die für die Geschichte entscheidenden Entwicklungen bezüglich des sich abzeichnenden moralischen Dilemmas werden jedoch schlüssig aufgearbeitet.
Ein moralisches Dilemma manifestiert sich in mehreren Konflikten
Mit der Umwandlung der Atmosphäre klappte es nicht wie geplant und vorausberechnet, deshalb saßen sie immer noch in Kuppelstädten fest. Doch dies wurde von den meisten Menschen akzeptiert. Denn das Anrecht auf ein Leben in grüner Natur hatten sie verwirkt. Das war fast jedem klar. Und Liv freute sich, dass sich die Erde vom Einfluss des Menschen erholt hatte. Sie war zu einem wahren Paradies geworden.
S. 35
Harrison Fawcetts Entschluss, den Tod seiner Ehefrau zu verhindern und damit die Neubesiedlung des Planeten Erde an den Mars zu verraten, offenbart eine ganze Reihe von Konflikten. Diese lauerten seit dem Exodus der Menschheit vor über 200 Jahren und dem Neubeginn auf der Erde vor dreißig Jahren unter den vermeintlich glatten Fassaden beider menschlicher Gemeinschaften.
Auf dem Mars bildeten sich zahlreiche Gruppen von Verschwörungstheoretikern, die die Autorin sehr schön im Stil der sogenannten Querdenker aus der Zeit der Corona-Pandemie gezeichnet hat. Darunter befinden sich Gruppen, die nicht an die Apokalypse glauben, die die Menschheit zum Mars geführt hat. Und solche, die per se die Existenz des Planeten Erde leugnen. Dem Menschheitsrat auf dem Mars bleibt aus seiner Sicht nichts anderes übrig als die strikte Durchsetzung des obersten aller Gesetze. Denn sonst wäre zuerst der Frieden der menschlichen Gemeinschaft auf dem Mars in Gefahr und schließlich die Regeneration des einst beinahe zerstörten Planeten.
Doch auch in der so friedlich anmutenden Gemeinschaft auf der Erde tun sich Gräben auf, denn nicht alle hatten und haben die gleichen Ziele. Jeder dieser Konflikte entwickelt sich aus einem moralischen Dilemma, das den Geschichten beider menschlicher Gemeinschaften zugrunde liegt: Berechtigt das Wohl der Gemeinschaft dazu, Individuen ihr Glück zu verweigern oder gar ihnen das Leben zu nehmen?
Mehrere Erzählperspektiven demonstrieren die Komplexität der Situation
Die wechselnden Erzählperspektiven, zum Beispiel die von Liv und Sida von der Observation VII, oder Collin, Harrison oder Lyam von der Erde, tragen zur Nachvollziehbarkeit der Geschehnisse bei. Sehr anschaulich zeigt sich die Ausweglosigkeit der Situation in den Diskussionen zwischen Sida und Liv. Die Security Agent sieht sich in der Pflicht, das oberste Gesetz durchzusetzen, Captain Liv appelliert an Humanität und Gewissen im Umgang mit den Terroristen, die einfach nur ihr Leben auf der Erde im Einklang mit der Natur leben wollen. Ihre Gespräche drehen sich manchmal im Kreis, was allerdings den Teufelskreis widerspiegelt, in dem sie sich befinden.
Ein ähnlich differenziertes und komplexes Bild offenbart sich in Dialogen zwischen den Erdbewohnern. Eine Kluft entsteht zwischen jenen, die ihren Traum bedroht sehen, jenen, die diesen Traum nie träumten, und der nächsten Generation, die nichts anderes kennt als ein Leben auf der Erde.
Ambivalenz anstelle einer Moral der Geschicht‘
War das oberste Gesetz wichtiger als das Leben von Menschen? War es integer, wenige zu opfern, um die Mehrheit vor Krieg zu schützen?“
S. 163
Jacqueline Montemurri präsentiert uns weder eine Bewertung noch eine Lösung dieses Konflikts, sondern Betrachtungen, Schlussfolgerungen und Ausblicke. Diese Ambivalenz gehört für mich zu den positivsten Aspekten des Romans „Der verbotene Planet“. Dennoch führt sie die Geschichte zu einem runden, wenn auch eher vorläufigen Ende. Eine Fortsetzung der Geschichte mit vielerlei Entwicklungen auf dem Mars und auf der Erde wäre denkbar, muss aber nicht sein. Der Roman unterhält spannend, regt mit philosophischen Anklängen zum Nachdenken an und funktioniert als Stand-Alone sehr gut. Um die Erkenntnis, dass es nicht für jedes Problem eine bestimmte und richtige Lösung gibt, kommt man ohnehin nicht herum.
Eva Bergschneider
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