Über Bücher, menschliche Schicksale und das Elend der Welt in der Nazi-Diktatur
Leipzig in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943. In einer Bombennacht zerstört die Royal Airforce fast das gesamte Graphische Viertel, das Leipzig einst so berühmt gemacht hat. Rund 50 Millionen Bücher wurden ein Raub der Flammen. Druckereien, Buchbinder und Antiquariate fielen dem Feuer zum Opfer. Mittendrin in dem Inferno, ein kleines Antiquariat, dessen Inhaber zu den versiertesten Buchbindern Deutschlands gehört.
Doch beginnen wir am Anfang. 1933, ein gewisser Adolf Hitler wurde gerade zum Reichskanzler gekürt, bekommt der Buchbinder Jacob Steinfeld in seinem Laden Besuch. Julie, die Tochter seines reichen und mächtigen Widersachers, der ihn mit allen Mitteln aus einer ehemaligen Kapelle, die nun sein Antiquariat ist, drängen will, sucht ihn auf. Sie möchte ein Manuskript binden lassen. Es ist ein Buch, das sie selbst verfasst hat und in dem sie von den Vorgängen innerhalb der Familie Pallandt berichtet.
Jacob lehnt ab. Doch damit hat sich die Angelegenheit beileibe nicht erledigt, ist er doch fasziniert von Julies spontaner und tiefgründiger Art. Er will, er muss sie wiedersehen. Eine gemeinsame Nacht folgt, dann ist die Liebe seines Lebens spurlos verschwunden. Er macht sich, auch im Auftrag des sich sorgenden Vaters, auf die Suche nach der Verschollenen.
Erzählungen auf drei Zeitebenen
1943/1944 begegnen wir in der Bombennacht Robert Steinfeld, einem Kind, das seit seiner Geburt in einem Zimmer ohne Fenster, aber mit jeder Menge Bücher festgehalten wird. Wer seine Eltern, seine Familie sind, weiß er nicht. Als die Bomben fallen, befreit ihn ein mysteriöser Bücherjäger aus dem Zimmer und nimmt ihn mit auf eine Reise durch das kriegsgeschüttelte Deutschland. Der Mann weiß immer, wo in der nächsten Nacht Bomben niedergehen. Gleich einem Leichenfledderer sucht er dann die zerstörten Bibliotheken heim, um die erhalten gebliebenen, teuren Bände einzusammeln und zu Geld zu machen. Er ist auf der Suche nach einem sagenumwobenen Buch, von dem es nur eine Ausgabe geben soll. Ein Buch, mit dessen Hilfe einst der Teufel auf Erden beschworen worden sein soll.
Anfang der 70er Jahre begegnen wir diesem Jungen wieder. Inzwischen ist er erwachsen geworden, dem Medium Buch als Antiquar aber erhalten geblieben. Zusammen mit einer Kollegin macht er sich auf die Suche nach den beiden verschollenen Büchern, nach den Geheimnissen um Julie und nicht zuletzt nach dem Mysterium seiner Herkunft. In der DDR nehmen sie erste Spuren auf, Fährten, die sie zu der Leiterin des Lebensborns und zu einem Grafen in Wien führen, bevor im belgischen Ostende alle Rätsel vielleicht gelüftet werden können.
Was ist dies für eine verschachtelte, faszinierende und ergreifende Geschichte?
Kai Meyer, der magische Realist, hat mit „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ einen Roman geschrieben, der mit der fiktiven Geschichte auch viel Zeitgeschichtliche transportiert. Mit scharfem Blick porträtiert er die ersten Auswüchse der Nazi-Despoten. Zeigt uns die Trittbrettfahrer, die ihr mangelndes Selbstwertgefühl nach Erhebung der SA zur Ordnungsmacht zur Abrechnung mit alten Widersachern, oder solchen, die sie dafür halten, nutzen. Aber auch die Zuwendung Himmlers zur Esoterik wird aufgegriffen, die Hintergründe des Lebensborns fließen mit ein.
Mit leichter Hand gelingt es dem Autor nicht nur den Schrecken der Nazi-Herrschaft in seinen Text zu inkludieren, sondern auch die Schergen des Braunen Systems nicht zu stereotyp zu porträtieren. Er zeichnet diese überzeugend als Verlierer, die plötzlich zu einer gewissen Macht kommen und diese gnadenlos ausnutzen, um für empfundenes Unrecht, für Kränkungen und Herabsetzungen Rache zu nehmen.
In diese erschreckend real wirkende Kulisse präsentiert uns der Autor seine Geschichten von menschlichen Schicksalen. Und hier meine ich nicht nur die beiden Protagonisten, die einander nie kennenlernen: Vater und Sohn Steinfeld. Beide sind geprägt von der Liebe zum Medium Buch, beide sind eher introvertiert, scheuen sich aber nicht, sich Unrecht entschieden und offensiv in den Weg zu stellen.
Über Menschen, die leiden
Dieses Buch beschreibt ihre Schicksale, aber auch das Elend ihrer Welt. Das Adjektiv, das mir als erstes in den Sinn kommt, wenn ich an den Roman denke, ist melancholisch. So gelungen, ja elegant die abwechselnd beleuchteten drei Handlungsstränge miteinander verwoben sind, eine gewisse Traurigkeit schwingt oft mit. Wie kann es angesichts der beschriebenen Schicksale auch anders sein? Ein Land, geschunden von den Schergen, die es selbst rief, ein Kontinent, gefangen im grausamen Krieg. Darin Menschen, die von denen, denen sie vertrauen, die sich eigentlich um sie kümmern sollten, gezwungen werden, eine bestimmte Rolle einzunehmen. Eine die grausam, pervers und widerlich ist.
Der legendäre Kritiker Marcel Reich-Ranicki hat einmal sinngemäß gesagt, dass ihn nur Menschen, die leiden, interessieren. Er hätte seine wahre Freude an „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ gehabt.
Atmosphärisch sehr dicht, wunderbar stimmig beschrieben und sorgfältig recherchiert nehmen uns die Menschen, die ihr Schicksal mutig annehmen, für sich ein. Meyer hat dazu jede Menge unerwarteter Wendungen eingebaut. Er offeriert uns ein Bild, das sich nach und nach, gleich einem Puzzle zusammensetzt, in dem sich jedes Teil an dem ihm bestimmten Platz einfügt.
Natürlich kann Kai Meyer vom Phantastischen nicht lassen. Auch wenn der Plot ganz in der historischen Realität fußt, gibt es im Hintergrund durchaus phantastische Ansätze.
Fazit
So ist „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ sicherlich Kai Meyers erwachsenstes Buch. Es ist ein Werk, das durch die beschriebenen Figuren und deren Schicksale berührt und das uns drei vergangene Zeitepochen vorstellt. Und doch, trotz all dem Leid, das den Menschen widerfährt, ist es kein durchweg trauriger Roman, sondern ein hoffnungsvoller der zeigt, was Liebe für eine bewegende Kraft sein kann.
Carsten Kuhr
Phantastik Plus
Knaur Verlag
November 2022
Buch
496
semper smile
90