Eine Märchenadaption im feministischen Gewand
Amelia war schon immer eine der Meerjungfrauen, die ihre Eltern und Schwestern um ihren wohlverdienten Schlaf brachte. Seitdem sie denken kann, ist sie neugierig auf das, was außerhalb ihres üblichen Radius liegt, will das Meer und die Welt kennenlernen. Ihre Neugier treibt sie nicht nur in die Tiefen der Ozeane, sondern auch an die Oberfläche, auf der sich komische kleine Nussschalen mit merkwürdig bedeckten Wesen tummeln. Als sie sich dem Land nähert, sieht sie, dass diese Wesen dort zu leben scheinen.
Sie will, sie muss diese einfach näher kennenlernen. Als sie, um einen gefangenen Fisch zu befreien, zu nah an eines der Netze heranschwimmt, verfängt sie sich in den Maschen. Der Fischer aber schaut sie mit den traurigsten Augen, die sie je erblickt hat, an und schneidet sie los. Damit hatte sie nicht gerechnet. Die unverhofft vergönnte Freiheit löst etwas tief in ihr aus. Sie beschließt an Land zu gehen, verliebt sich in den Fischer und lebt jahrelang glücklich an dessen Seite.
Nach seinem Tod bleibt sie einsam zurück. Eines Tages klopft ein Fremder an ihre Tür. Er wurde von einem Museumsbesitzer in New York ausgesandt, dem Gerücht der Existenz einer echten Meerjungfrau auf den Grund zu gehen und sie für eine Ausstellung zu verpflichten. Zunächst lehnt sie das Angebot ab, doch dann packt sie die Neugier. Sie schwimmt von Maine nach New York, lernt P. T. Barnum kennen und wird zur neuen, skandalumwitterten Attraktion seiner Ausstellung.
Die Wendung des Plots ist der Clou
Inzwischen kennen viele Phantastik-Fans die dunklen Nacherzählungen bekannter Märchen und Sagen aus der Feder Christina Henrys. Phantastisch-lesen stellte bereits den Storyband „Looking Glass“ aus der Serie der „Dunklen Chroniken“ im Original vor. Der Penhaligon-Verlag gönnt den deutschsprachigen Büchern eine ganz besondere Ausstattung: Verzierungen auf dem Schnitt, dazu jeweils ein gebundener und geprägter Einband, sowie eine zum Inhalt passende Coverillustration. Das weckt unwillkürlich das Interesse der potentiellen Leserin und des Lesers und ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass sich die vorherigen Märchenadaptionen um „Alice“ und „Peter Pan“ sehr gut verkauften.
„Die Chroniken der Meerjungfrau-Der Fluch der Wellen“ ist in Bezug auf die Storygestaltung seinen Vorgängern ähnlich und dennoch ganz anders. Auch in diesem Roman greift die Verfasserin wieder eine literarische Vorlage auf und wandelt diese dann zu ihrem ganz eigenen Werk. Allerdings hat dieses eine besondere Ausstrahlung, eine andere Qualität als die vorhergehenden Bände.
Zunächst erzählt sie uns sehr einfühlsam und ergreifend von einer Liebesgeschichte. Eine junge Frau verlässt ihr Heim, das Meer, weil sie sich in einen Fremden verliebt. Eigentlich per se nichts Neues, nur dass diese Love-Story so unauffällig und doch berührend aufbereitet wird. Die Zweisamkeit die Beiden, die, trotz eines unerfüllten Kinderwunschs, zum Glücklichsein reicht, wird intensiv und gleichzeitig anschaulich erzählt. Der Text rührt uns an und macht auch ein wenig melancholisch.
Dem folgt eine einschneidende Zäsur. Amelia erkundet die Welt der Jahre um 1840 – und sie eckt an. Eigentlich passt die Veränderung sehr gut in ihr einsames Leben – hier der Schausteller, der eine neue Attraktion braucht, dort die Meerjungfrau, die wieder die Welt kennenlernen will. Doch dann kommt es, wie es wohl kommen muss. Die Gier erhebt ihr abschreckendes Haupt und Amelia verweigert, sich den Konventionen zu unterwerfen.
Amelia beobachtet die Menschen, stellt immer wieder deren Verhalten in Frage. Sie weigert sich, sich ihres Körpers zu schämen oder sich unterzuordnen. Will sich schlicht nicht selbst aufzugeben und gesellschaftlichen Regeln folgen. Der hier dargestellte Feminismus wird passend in die Handlung eingewebt und ist ein essentieller Teil der Charakterzeichnung Amelias. Immer wieder musste ich bei den pointierten Betrachtungen unserer Meerjungfrau zu den Zuständen der Welt und den Überzeugungen ihrer Bewohner schmunzeln. Mich auch fragen, was sie wohl zu unserer jetzigen Welt sagen würde.
Fazit
So ist dies ein Roman, der uns zwei ganz verschiedene Plots anbietet. Nach der sehr berührenden Love-Story geht es um Feminismus, Freiheitsdrang, um Emanzipation. Und zugleich natürlich darum, eine spannende Geschichte zu erzählen. Genau das hat Christina Henry auf überzeugende und unterhaltsame Art und Weise geschafft.
Carsten Kuhr
Die Dunklen Chroniken, Band 5
Fantasy (Dark)
Penhaligon Verlag
Oktober 2021
Buch
365
Julia Lloyd
91