Die linke Hand der Dunkelheit – Ursula K. Le Guin

Die linke Hand der Dunkelheit von Ursula K Le Guin © Heyne
Die linke Hand der Dunkelheit© Heyne

In vielfacher Hinsicht ein bedeutendes Werk

Die Menschen aus dem Weltenkollektiv nennen diesen Planeten aufgrund der kalten Witterung Winter, seine Bewohner nennen ihn Gethen. Die Menschen, die auf Gethen leben, zeichnet eine Besonderheit aus: Sie sind überwiegend androgyn. Nur während bestimmter Phasen, Kemmer genannt, verlieben sich die Gethenianer und pflanzen sich fort. In der Zeit bilden sich weibliche oder männliche Geschlechtsorgane aus. Es lässt sich nicht beeinflussen, welches Geschlecht sich entwickelt. Und es kann sich bei der nächsten Kemmer auch das andere ausbilden.

Der Terraner Genly Ai wurde nach Gethen entsandt, um für die Aufnahme in das Weltenkollektiv, Ökumene genannt, zu werben. Im Königreich Kahide scheint der Gesandte zumindest in dem Premierminister einen Verbündeten gefunden zu haben. Der König dieses Landes ist jedoch strikt gegen jegliche Kontaktaufnahme zu anderen Welten. Und Premier Estraven gibt sich geheimnisvoll und unverbindlich. Shifgrethor nennt sich ein Verhaltensmuster, das Kahides gesellschaftliches Leben prägt und für Ai die Kommunikation mit den Regierenden enorm erschwert.

Nach einem Abendessen mit Estraven, der ihm das Ende seiner Unterstützung ankündigt, und einer Audienz beim König, ändert sich Ais Situation grundlegend. Der König erklärt, dass Estraven ein Verräter ist, der in drei Tagen als „vogelfrei“ gilt und das Land verlassen muss. Und auch Ai hat keinen Grund mehr, zu bleiben. Unabhängig voneinander fliehen Gesandter und Ex-Premier in das Nachbarland Orgoreyn. Sie erdulden Gefangenschaft und Zwangsarbeit, bevor sie sich gemeinsam auf einen langen Weg durch das Eis begeben. Und auf besondere Weise zueinander finden.

Das Problem mit dem „Gendern“

»Der bis heute bedeutendste Roman über Geschlechterrollen und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft.«

verspricht das Cover der Heyne-Ausgabe aus dem Jahr 2014 von „Die linke Hand der Dunkelheit“. Unter dem Aspekt gelesen, hält die Sprache des Romans eine Schwierigkeit bereit: Geht es um die Bewohner Gethens, ist stets von „Männern“ die Rede. Erst als ich gedanklich den Begriff „Männer“ durch „Menschen“ ersetzte, fand ich Zugang zu dieser fiktiven Welt. Für Berufsbezeichnungen hingegen wird manchmal die weibliche Entsprechung verwendet. Zuerst dachte ich, das sei ein Problem der deutschen Übersetzung. Doch zahlreiche Kritiken zum Originalband beschreiben ähnliches, denn dort kommt ausschließlich das männliche Personalpronomen zum Einsatz. Mit „Is Gender neccessary?“ betitelte Le Guin 1976 einen Essay zum Buch und stellte fest, dass es möglicherweise ein Versäumnis war, die weiblichen Merkmale nicht stärker zu betonen. Formulierungen wie „Der König ist schwanger“ oder „Meine Zimmerwirtin, ein überaus wortreicher Mann“ verdeutlichen, dass die Autorin die Gethenianer durchaus als Personen mit männlichen und weiblichen Eigenschaften konzipierte.

Als Feministische Utopie bezeichnen viele Buchkritiker den 1969 erschienenen Roman. Auf den ersten Blick stellt man fest, dass das Fehlen einer Unterteilung in weiblich und männlich einen überraschend geringen Einfluss auf die Gesellschaft Gethens hat. Die Staatsformen auf Gethen sind aus unserer Historie bekannt und nur wenig anders: Feudalismus/Kapitalismus in Kahide – Sozialismus in Orgoreyn. In diesem Punkt ähnelt „Die linke Hand der Dunkelheit“ einem anderen Buch aus Le Guins Hainish-Zyklus das zuletzt unter dem Titel „Freie Geister“ veröffentlicht wurde (in früheren Ausgaben „Planet der Habenichtse“). Diese politischen Systeme prägen die Gesellschaften auf Gethen sehr viel stärker, als die Androgynität der Menschen. Sind mir die feministischen Aspekte dieses Werks also entgangen?

Nachdem ich die Bachelorarbeit meiner Tochter zurate zog („Feminist Utopias in the 1960 – 1970: Joanna Russ and Ursula K. Le Guin“ – Maren Bergschneider), begriff ich, dass im Fehlen offensichtlicher Einflüsse der Androgynität bereits die feministische Aussage steckt. Ursula K. Le Guin weist im Vorwort explizit darauf hin, dass die Geschicke unserer Welt möglicherweise weniger als angenommen vom Dualismus der Geschlechter beeinflusst werden.

»Ja, die Menschen in ihm (dem Roman) sind in der Tat androgyn, aber das heißt nicht, ich wollte damit vorhersagen, dass wir in vielleicht tausend Jahren alle androgyn sein werden, oder dass ich die Meinung verkünden wollte, wir sollten gefälligst androgyn werden. Ich bemerke nur – in der eigentümlichen, verschlungenen, einem Gedankenexperiment ähnlichen Weise der Science-Fiction – dass wir es, zu manchen Tageszeiten, bei bestimmten Wetter betrachtet, schon sind.« [S. 10]

 Ein zweiter Blick offenbart jedoch Unterschiede in der androgynen Gesellschaft, die durchaus bedeutsam sind. Einerseits führt die Trennung von Nachwuchs gebären und dessen Erziehung dazu, dass niemand den beruflichen Werdegang einschränken muss. In Orgoreyn werden die Kinder ab dem zweiten Lebensjahr in Gemeinschaften aufgezogen, nicht von ihren Eltern.

Zudem spielt das Geschlecht in sozialen Beziehungen keine Rolle. Und somit entfallen geschlechtsspezifische Konflikte, inklusive entsprechender Gewalttaten. Le Guin zeigt damit, dass eine Gesellschaft den Geschlechter-Dualismus nicht braucht, um auf eine ähnliche Art und Weise zu funktionieren, wie wir es kennen. In dem bereits genannten Aufsatz zum Roman erklärt die Autorin, dass die Gethenianer lediglich auf Krieg, Ausbeutung und Geschlecht als einen sozialen Faktor verzichten. Gerade der Anfang des Romans verdeutlicht, dass auch auf Gethen die Politik nicht ohne Verrat und Lüge auskommt. Die Unterschiede zu unserer politischen Historie sind in diesem Punkt nicht allzu groß.

Über Freundschaft und Ehrlichkeit

Im zweiten Teil des Romans erleben wir, wie aus zwei Personen, die einander nicht trauen, Freunde werden. Für die Leser*innen ist Ex Premier Estraven bereits eine Sympathiefigur. In den Passagen, in denen er als aktueller Ich-Erzähler das Geschehen aus seiner Sicht schildert, lernen wir die Wahrnehmung und Denkweise der Gethenianer kennen. Genly Ai überwindet auf der gemeinsamen Flucht den Zwang, alle Wesenszüge seines Gefährten in männlich und weiblich einzuteilen und Estraven einfach als Mensch zu betrachten.

Aus dem „Erdsee“-Zyklus hat Le Guin eine Sprache, in der man nicht lügen kann, übernommen. Die Terraner, und somit der Protagonist Ai, sind in der Lage Telepathie zu erlernen. Sie bildet einen interessanten Gegenentwurf zum Ritual des Shifgrethor, der Wahrung von Stolz und Vermeidung von Gesichtsverlust. Diese besonderen Gaben der Terraner und Gethenianer, einerseits die bedingungslose Ehrlichkeit, andererseits eine Gesellschaft, in der das Geschlecht in der sozialen Interaktion keine Rolle spielt, bilden die utopische Grundlage in „Die linke Hand der Dunkelheit“ Sie stehen in diesem Gedankenexperiment, wie die Autorin ihre Geschichte nennt, für die Hoffnung auf eine gerechtere Welt.

Le Guins Sprache ein Hochgenuss

 Der Einstieg in den Roman fällt ein wenig schwer. Nicht nur wegen der Verwendung der männlichen Wortformen, sondern weil die ersten Kapitel ausschließlich aus Genlys retrospektiver Sicht erzählt werden. Unterbrochen wird Genlys Bericht von mythologischen Geschichten aus der Welt, die einen Einblick in die Kultur und Entwicklung der Völker Gethens gewähren. In diese Welt einzutauchen gelingt leichter, als auch Estraven als Erzähler auftritt und Genlys Schilderung mit seiner Perspektive ergänzt. Dadurch entsteht nach und nach ein klares Bild dieser Gesellschaft. Der Roman wirkt besonders am Anfang weniger rund als die „Erdsee“-Romane oder „Freie Geister“. Trotzdem finden wir in „Die linke Hand der Dunkelheit“ die unvergleichliche sprachliche Schönheit und Prägnanz, die die Werke von Ursula K Le Guin stets kennzeichnet. Das folgende Zitat ist ein Beispiel dafür. Es ist Teil eines Gesprächs zwischen Genly und Estraven über die Liebe zur Heimat und die Abneigung gegenüber anderen Nationen:

»Wie hasst man ein Land? Wie liebt man es? [..] ich habe diesen Trick nie gelernt. Ich kenne Menschen, ich kenne Städte, Farmen, Berge, Flüsse und Felsen, ich weiß wie die Sonnenstrahlen bei einem Sonnenuntergang im Herbst auf ein bestimmtes Stück Ackerland an einem Abhang fallen. Doch welchen Sinn hat es, all dem eine Grenze zu geben, all dem einen Namen zu geben und dort, wo der Name nicht mehr zutrifft, aufzuhören, es schön zu finden? Was ist das, Liebe zum eigenen Land? Ist es der Hass auf das eigene Nichtland? Dann ist es wahrhaftig nichts Gutes. Ist es vielleicht ganz schlicht und einfach Eigenliebe? Dann ist es etwas Gutes, aber man darf weder eine Tugend daraus machen noch einen Beruf.« [S. 278]

Warum Frauen und Männer „Die linke Hand der Dunkelheit“ lesen sollten

Berücksichtigt man das Erscheinungsjahr des Buchs wird deutlich, dass „Die linke Hand der Dunkelheit“ eine fortschrittliche und zeitlose Utopie ist. Bei der Kritik an männlichen Wortformen darf man nicht vergessen, dass erst seit einigen Jahren versucht wird, genderneutrale Bezeichnungen zu etablieren. Der Roman ist eine feministische Utopie mit weitreichenden Denkanstößen über die Entbehrlichkeit von Geschlechterrollen in der Gesellschaft. Er ist eine humanistische Utopie über den Sinn und Unsinn von Nationalismus, über Toleranz, Aufrichtigkeit und vor allem Freundschaft. All das verpackte Ursula K Le Guin in eine spannende Geschichte, in der die Protagonisten politisch taktieren, Misshandlung fürchten, Verfolger abschütteln und schier unüberwindbare Schwierigkeiten bewältigen müssen. „Die linke Hand der Dunkelheit“ ist zwar keine Utopie im Sinne einer schönen, fortschrittlichen Zukunftswelt. Jedoch ein Buch, das Hoffnung darauf macht, dass ein gesellschaftliches Miteinander ohne Geschlechter-Klischees kein Ding der Unmöglichkeit ist.

Eva Bergschneider

Den Artikel zu „Die linke Hand der Dunkelheit“ findet ihr auch im PHANTAST Magazin 24 „Hoffnung“ 

Die linke Hand der Dunkelheit
Ursula K. Le Guin, Übersetzung: Giesela Stege (Roman), Erik Simon (Vorbemerkung)
Science Fiction
Heyne
April 2014
397
Valentina Montagna
85

3 Gedanken zu „Die linke Hand der Dunkelheit – Ursula K. Le Guin

  1. Es ist sehr lange her, dass ich „Die linke Hand der Dunkelheit“ gelesen habe und Deine kompetente Rezension, Eva, hat mir dieses wichtige Werk der SF wieder in angenehme Erinnerung gebracht.

    In diesem Zusammenhang und speziell zu den Schlüsselworten: Sprache , Geschlecht, Science Fiction, möchte ich den Roman von Ann Leckie „Die Maschinen“ empfehlen, den ersten Band einer Trilogie in dem die Autorin „im englischen Original als generische Form ausschließlich weibliche Pronomen verwendet“, was die Übersetzungsleistung von Bernhard Kempen vor eine ganz besondere Herausforderung gestellt hat.
    Ich persönlich habe, obwohl bereits 2015 erschienen, dieses ausgezeichnete Werk bisher nur zur Hälfte gelesen und verweise deshalb gerne auf folgende, aussagefähige Rezension: https://literaturkritik.de/id/22558

    1. Hallo Stefan, DANKE Dir für den Tipp und den erhellenden Artikel. „Die Maschinen“ klingt wirklich sehr interessant und ich hatte mir den auch schon einmal auf den Zettel geschrieben. Ein inspirierender Gedanke, einmal konsequent das generische Femininum zu lesen, auch die Story klingt spannend. Was übrigens den Übersetzenden Bernhard Kempen angeht, falls es Dich interssiert, die Amandara hat ein sehr cooles Interview mit ihm geführt. https://phantastisch-lesen.com/interview-mit-bernhard-kempen/

  2. Hallo Eva, das Interview mit Bernhard Kempen hatte ich mir schon in Teilen angeschaut und nun noch einmal vollständig. Sehr sympathischer Mensch und Hut ab allein vor der Anzahl der von ihm übersetzten literarischen Werke!

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