Die Maschinen (Die Maschinen 1) – Ann Leckie

Die Frage nach dem eigenen Ich

Die Maschinen (Die Maschinen 1) - Ann Leckie © Heyne Hintergrund blau-schwarz, Universum, in Zwei geteilter Kopf einer Androiden Frau, Technik im Inneren
Die Maschinen © Heyne

Der Titel „Die Maschinen“ für die deutschsprachige Ausgabe des Romans „Ancillary Justice“ von Ann Leckie erscheint seltsam unscheinbar angesichts der Wucht und Neuartigkeit der Geschichte und der Art ihrer Erzählung. Gleichwohl der Begriff Maschine auf die Protagonistin zutrifft. Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein Individuum, das zwar in einem menschlichen Körper steckt, jedoch vollständig technologisch erschaffen wurde.

Breq, Eins Esk und die Gerechtigkeit der Torren sind als Person, Klonarmee und Raumschiff ein Individuum. Ann Leckie erzählt ihre weit in der Zukunft angesiedelte Space Opera auf zwei Handlungsebenen. Einerseits die Kernhandlung, in der Breq als einzelne Person das Ziel verfolgt, die imperiale Herrscherin der Radch zu töten. Andererseits eine 20 Jahre zuvor angesiedelte Handlung, die erzählt, wie aus der Gruppe Kampfandroiden um Eins Esk, eins mit dem Invasionsraumschiff „Gerechtigkeit der Torren“, eine Person auf einem Rachefeldzug wurde.

Vergangenheit

Die Klonsoldaten um Eins Esk und das Schiff Gerechtigkeit der Torren sind Teil der gigantischen Invasionsarmee der Radch, das 3000 Jahre lang unzählige Planeten eroberte und ihre Völker zu Bürgern des Imperiums der Radchaai machte. Ihrer überlegenen Waffentechnologie und zielgerichteten Grausamkeit hatten die Völker im All nichts entgegenzusetzen. Etwaige Reste an Widerstand eliminierten Exekutionen, Deportationen und Umerziehung. Sowie die Verwandlung in Hilfseinheiten wie Eins Esk.

Die Expansionsstrategie der Imperatorin Anaander Minaai kam jedoch zum Erliegen. Der letzte eroberte Planet ist Shis’urna, auf dem Eins Esk unter Leutnantin Awn als Teil der Besatzungsarmee dient. Ein Konflikt zwischen den Volksgruppen der Orsai und der Tanmind führt dazu, dass Anaander Minaai persönlich den Planeten besucht. Und Entscheidungen trifft, die Eins Esk davon überzeugen, dass mit dem Reich der Radchaai und der Imperatorin etwas ganz und gar nicht stimmt.

Gegenwart

Breq findet in einer Ortschaft auf dem Winterplaneten Nilt eine alte Bekannte von der Kef-Droge betäubt im Schnee liegen. Leutnantin Seivarden hatte vor über 1000 Jahren mit Eins Esk gedient und war nach ihrem Tod zurück ins Leben geholt worden. Obwohl Breq Seivarden verachtet, weil sie sich als Bürgerin aus gutem Hause anderen überlegen fühlt, rettet sie ihr das Leben. Fortan reisen beide gemeinsam über den Planeten und durch das All. Auf der Suche nach Mitteln und Gelegenheit, die Imperatorin umzubringen und ein neues Zeitalter einzuleiten.

Das Abenteuer, die Macht der Gewohnheit zu überwinden

Es gibt keinen einzigen Artikel oder Kommentar im Netz über „Die Maschinen“, der nicht auf eine Besonderheit dieser Erzählung eingeht: fast ausschließlich wird das generische Femininum verwendet, also weibliche Endungen und weibliche Pronomen. Die Gründe dafür legt der Übersetzer Bernhard Kempen in einem lesenswerten Essay dar, der sich auf den ersten Seiten der deutschsprachigen Ausgabe befindet. Ann Leckie schrieb ihr englischsprachiges Original ebenfalls im generischen Femininum. Da die englische Sprache allerdings nicht ganz so Gender-geprägt ist, wie die deutsche, ist diese Besonderheit in der Übersetzung noch präsenter und häufiger anzutreffen.

Doch warum? Die Autorin konzipierte die Sprache der Radch als eine ohne geschlechtliche Markierungen. Doch wie hätte sie dies in einer Sprache mit geschlechtlichen Markierungen, eben dem generischen Maskulinum, darstellen sollen? Um den Lesenden ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie sich die Sichtweise auf die Welt ändert, wenn die Sprache auf die gewohnte Gender-Ausrichtung verzichtet, wählte sie dieses sprachliche Mittel.

Mit wenig überraschenden Konsequenzen. Viele Lesende kommentieren, dass dieses Buch dadurch für sie unlesbar wurde. Auch ich gestehe, dass ich mich zunächst immer wieder fragte, ob Breq gerade mit einer Frau, oder einem Mann interagiert. Mensch erfährt es gelegentlich, wenn die Handlung in einem Sprachraum spielt, dessen Sprache ebenfalls geschlechtliche Markierungen verwendet. Meistens bleibt das Geschlecht des Gegenübers verborgen und irgendwann wird klar, dass es in den seltensten Fällen relevant ist.

Noch gewöhnungsbedürftiger als das generische Femininum, ist die Einordnung der Perspektive einer Person, die abwechselnd als Individuum agiert, oder aus zwanzig Klonen und einem Raumschiff besteht. Ann Leckie wählte für beide Erzählstränge die Ich-Perspektive. Jedoch erzählt in der zwanzig Jahre zurückliegenden Handlung eine allwissend erscheinende Erzählerin und präsentiert Informationen und Beobachtungen, die einer Ich-Erzählerin normalerweise nicht vorliegen. Diese Art der multiperspektivischen Erzählung ist anfangs wirklich kompliziert. Die Szene, in der das Bewusstsein der Klone voneinander getrennt wird, empfand ich als Eye-Opener. Sie half die Erzählperspektive einer Person mit vielerlei Sinneseindrücken besser zu verstehen.

Kernhandlung und Hintergründe perfekt aufeinander abgestimmt

Genug über Erzählstile, schließlich besticht „Die Maschinen“ auch durch eine spannende und interessante Handlung. Breq und Seivardens Road-Trip stellt beide vor Herausforderungen. Mit Breq fragt sich die Lesende, warum sie ihre ehemalige Leutnantin vor dem Drogentod rettete. Standesdünkel prägen Seivardens Denken und Werte, ein Konzept, das Breq als Nicht-Radchaai ablehnt. Während die Androidin ihre gefährliche Mission verfolgt, versucht sie immer wieder ihr Anhängsel loszuwerden, oder erneut zu retten. Was beide in zahlreiche Gefahren und Konfliktsituationen bringt.

Nicht nur perspektivisch, sondern auch auf die Hintergründe bezogen ist die Handlung 20 Jahre in der Vergangenheit breiter aufgestellt. Ann Lecke portraitiert das Imperium der Radchaai, das sie ein wenig dem römischen Reich nachempfunden hat. So erklärt sie dessen Entwicklung im Interview am Ende des Romans. Thematisiert wird, wie eine Gesellschaft von Standesdünkel und Korruption beeinflusst und zerschlagen wird. Bezeichnend ist ein Gespräch zwischen Leutnantin Awn und der Oberpriesterin der Orsai, die sich Androiden als Vertreter der Besatzungsmacht wünscht. Sie vertraut ihnen eher als den menschlichen Soldatinnen. Es geht um Loyalität, Moral und Gerechtigkeit. Und darum, inwieweit menschliche und künstliche Individuen diese Werte leben.

»Auch wenn es Ihnen nicht gefallen wird, sage ich Ihnen jetzt die Wahrheit: Luxus gibt es immer nur auf Kosten anderer. Einer der vielen Vorteile der Zivilisation ist, dass man das im Allgemeinen nicht sehen muss, wenn man es nicht sehen möchte. Man hat die Freiheit den Nutzen zu genießen, ohne das eigene Gewissen zu belasten.« [S. 95]

Lebensnahe  Protagonist:innen in ferner Zukunft

„Die Maschinen“ erzählt nicht nur von den Hindernissen auf Breqs Rachefeldzug und den Umtrieben von Besatzer und Besetzten auf dem Planeten Shis’urna, sondern auch von vielen alltäglichen Szenen und Interaktionen in diesem Universum. In der Hinsicht ähnelt „Die Maschinen“ den Romanen der „Trisolaris“ Reihe von Cixin Liu. Dadurch wirken die Lebensumstände der Protagonistinnen schnell vertraut und lebensnah. Darüber hinaus gelingt es der Autorin exzellent, die Entwicklung ihrer Protagonistin Breq und auch einiger Nebenfiguren wie Seivarden und Anaander Minaai zu skizzieren. Breq hat sich nach den 20 Jahren, in denen sie sich vom kollektiven Bewusstsein zum Individuum entwickelte, verändert. Sie hinterfragt einerseits ihr Handeln oft, ist aber auch selbstbewusst und stark. An Breqs Seite erhält auch Seivardens gescheitertes, neues Leben wieder einen Sinn, abseits des Einflusses ihrer bedeutenden Familie. Und die Herrin Anaander Minaai macht die gravierendste Persönlichkeitsentwicklung durch, über die die Rezensentin schweigt, um nicht zu spoilern.

Mehr Mut, mehr Progressivität

Das Stichwort #ProgressivePhantastik nannte ich schon in meiner letzten Rezension und möchte es auch hier einbringen. Denn mehr Progressivität in der Phantastischen Literatur geht kaum, wie sie hier die US-Autorin Ann Leckie und der Übersetzer Bernhard Kempen präsentieren. Einzigartig progressiv ist der Erzählstil, aber auch der Inhalt der Geschichte. Scheinbar in Stein gemeißelte Gesetzmäßigkeiten und unüberwindbare Mächte zerfallen und machen Platz für etwas Neues: Gender-Gerechtigkeit und Selbstbestimmungsrecht für jedes Individuum, jede Spezies.

Fazit

Im finalen Kapitel vereinen sich beide Handlungsstränge, die zunächst unabhängig voneinander ablaufen, zu einem komplexen, und erschütternden Gesamtbild. Hier gelingt der Autorin das Kunststück, einerseits ihre Geschichte abzuschließen, andererseits die Tür zu einem weiten Kosmos an Ereignissen, um Breq und die Radch aufzustoßen. Zurück bleibt ein nachhaltiges Leseerlebnis mit einer Fülle von Ideen und erhellenden Sichtweisen zu Individualität und Geschlechtlichkeit. Und das Gefühl, das vielleicht innovativste Werk der Science-Fiction Literatur genossen zu haben, das derzeit auf dem Buchmarkt zu finden ist. Weiter geht es im zweiten Band der Trilogie „Die Mission“.

Eva Bergschneider

Die Maschinen
Die Maschinen, Band 1
Ann Leckie, Übersetzung: Bernhard Kempen
Science Fiction
Heyne
Februar 2015
Buch
544
Billy Nunez
92

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