Explosive Mischung aus Steampunk- und Abenteuerroman
Der Jubelruf „Fantástico Fabuloso Apocalíptico!“ bleibt den Trapezkünstlern des fliegenden Circo im Hals stecken, als während ihres Auftritts das Zirkuszelt Feuer fängt. Fremdländische Personen mit seltsamen Masken haben den Brand gelegt und entführen die Zirkus-Crew samt Luftschiff Apocalástica. Direktor Diaz, seine Künstler und ein Mammut können nur hilflos mit ansehen, wie das Luftschiff von der baskischen Küste auf das offene Meer hinaussteuert. Richtung Westen auf eine Fahrt, von der noch niemand zurückgekehrt ist.
Auf der langen Überfahrt beginnen die Zirkusleute nicht nur den Entführern, sondern auch einander zu misstrauen. Der Zauberer entpuppt sich als Wissenschaftler und behauptet, dass ein Maschinenmensch an Bord ist. Als der türkische Koch Kesmir mit dem Ausruf „Dafür werde ich nicht bezahlt.“ in die eisigen Fluten des Atlantiks springt, wird klar, dass nicht nur er ein Geheimnis hütet. Was verbergen die Zirkusleute? Der Roma Ferenc, die chinesische Schlangenfrau Yue, der Meister der Blitze Herr Iko?
Die Freude darüber, die Überfahrt geschafft und einen unbekannten Kontinent entdeckt zu haben, währt nicht lange. Denn die Reise endet zwischen den Fronten eines Kriegs zweier mächtiger Völker mit fortschrittlicher Technik.
Weiter nördlich landet das friesische Luftschiff „Frijheid“. An Bord befindet sich ein ungleiches Paar, das die Leser des Romans „Die zerbrochene Puppe“ bereits kennen. Naðan und Tomke sind auf der Suche nach Tomkes Mutter, die vor Jahren spurlos verschwand. Tatsächlich finden sie im Land der Tsirokie Spuren der Vermissten. Und was hat es nun mit einer verlorenen Puppe auf sich?
Keine Fortsetzung, sondern eine neue Geschichte aus der „Eis & Dampf“ Welt
Judith und Christian Vogt sind die Urheber der „Eis und Dampf“ Welt, eine Steampunk-Alternativwelt, in der Eiszeit herrscht. Erfindungen, wie die Dampfmaschine ermöglichen eine Infrastruktur, die der Kälte trotzt, aber auch Probleme verursacht. Aus dieser Welt erzählen die Autoren Geschichten, die von den zivilisatorischen Auswüchsen dieser extrem lebensfeindlichen und technisierten Welt handeln. 2013 erschien „Die zerbrochene Puppe“, ein innovativer Steampunk-Roman, der den „Deutschen Phantastik Preis“ als Bester Roman national erhielt. Noch im selben Jahr folgte die durch Crowdfunding finanzierte Steampunk-Anthologie „Eis und Dampf“ mit dreizehn Geschichten. Noch mehr Kurzgeschichten finden wir im Groschenheft „Die grüne Fee“ und inzwischen gibt es auch ein Rollenspiel. Ein weiteres Buch hat drei Jahre Zeit gebraucht, doch das Warten hat sich gelohnt. Ende 2016 erschien „Die verschwundene Puppe“. Der Ähnlichkeit des Titels zum Trotz ist der Roman mitnichten eine Fortsetzung der Geschichte um „Die zerbrochene Puppe“. Sondern eine eigenständige Story mit anderen Protagonisten im Mittelpunkt, obwohl Naðan und Tomke in Nebenrollen wieder mit von der Partie sind.
Die Autoren beweisen einen überbordenden Ideenreichtum
Die Abenteuer, die Judith und Christian Vogt in „Die verlorene Puppe“ untergebracht haben, hätten mehrere Bücher füllen können. Erzählt werden sie in der Ich-Perspektive vom Protagonisten Ferenc, dem Trapezkünstler, der gern mit seiner Herkunft als Roma kokettiert und in seine Partnerin, der Schlangenfrau aus China verliebt ist. Ferenc wird schnell zum Sympathieträger, denn er ist clever, emotional und geheimnisvoll. Fahrtenbucheintragungen der „Frijheid“ ergänzen seine Erzählungen. Sie gehören zu einer zunächst parallel ablaufenden Story, die schließlich mit der Haupthandlung verschmilzt. Der Einstieg in den Roman auf den ersten 150 Seiten ist im Vergleich zu dem, was danach kommt, nahezu ruhig. Doch sobald das gekaperte Zirkusluftschiff den neuen Kontinent erreicht hat, geht es Schlag auf Schlag. Ein dramatisches Szenario folgt dem nächsten, jede neue Gefahr ist bedrohlicher, als die gerade ausgestandene. Hier kommt die eingeschränkte Sichtweise von Ferencs Erzählung an ihre Grenzen. In manchen Szenenwechseln hätte der Übergang etwas geschliffener sein dürfen, die Orientierung ist etwas mühsam.
„Einem Bardi jagte der Tod so wenig Angst ein, wie das Alter. Wir ehrten beides. Wir ehrten sogar die Angst davor.“ [S. 61]
Der entdeckte Kontinent beheimatet zwei mächtige, verfeindete Völker, die Mexica und die Tawantinsuyu (auch Tawamänner genannt). Beide lernt der Leser als fortschrittliche und kultivierte Völker kennen mit einem Hang zu grausamen Opferritualen. Auch die Mexica und Tawamänner haben Maschinen und Fahrzeuge auf Basis der Dampftechnologie entwickelt: zum Beispiel riesige Eisschiffe und Gleiter, mit denen Krieger durch die Luft fliegen. Die Schauplätze faszinieren mit einer ausgefeilten Infrastruktur und den exotischen Kultstätten, die wir von den Inka und Azteken kennen. Zur alternativen Welt gehört auch eine alternative Historie. Judith und Christian Vogt drehen die Geschichte der Entdeckung Mittelamerikas durch die Spanier um und schicken ihre Version der Azteken auf einen Eroberungsfeldzug um die Welt. Witzig und interessant sind die Auftritte bedeutender Wissenschaftler wie Tesla und Oppenheimer, die sich perfekt in die Handlung einfügen und diese maßgeblich voran bringen.
Eine fette Überraschung im Finale
Die titelgebende Puppe stellt einen weiteren spannenden Teil dieser Geschichte vor, der dem Finale des Romans eine vollkommen unerwartete Wendung verleiht. Bemerkenswert ist, wie Judith und Christian Vogt den umfangreichen Plot des Romans mit mehreren Handlungsebenen abschließen. Ein oder zwei Fragen bleiben zwar unbeantwortet, doch der überwiegende Teil der vielen Rätsel wird schlüssig aufgelöst. Insgesamt ist „Die verlorene Puppe“ ein spannender, verrückter, opulenter Lesespaß, der das Beste aus den Genres Steampunk und Abenteuerroman vereinigt. Mir fällt nur ein Buch ein, das mich auf ähnliche Art und Weise mitgerissen und begeistert hat und das war „Der goldene Schwarm“ von Nick Harkaway. Der Abschluss lässt glücklicherweise den schmalen Spalt einer Hintertür für weitere „Eis und Dampf“ Abenteuer offen und ich hoffe auf mehr.
Eva Bergschneider
Eis und Dampf Serie - zweites Buch
Steampunk
Feder & Schwert
November 2016
440
Funtastik-Faktor: 85