Magische Fäden in Londons Gaslicht
Eine Warnung vorab: Dieses Buch ist kein Steampunk, auch wenn es gelegentlich in diesem Zusammenhang geäußert wurde und das Cover stark darauf hindeutet. Es spielt nicht in einer Alternativ-Realität, in der die Dampftechnologie den großen Durchbruch erzielt hat und den Verbrennungsmotor ersetzt.
Es spielt stattdessen in einer alternativen Realität, in der die Magie ihren großen Durchbruch erreicht. Die beste Bezeichnung für den vorliegenden Roman, wenn man ihn denn einem Genre zuordnen möchte, dürfte Gaslicht-Fantasy sein. Das macht das Buch in keiner Weise schlechter, soll aber als Warnung für Steampunk-Puristen dienen. Falls Titel und Klappentext das nicht ohnehin schon getan haben.
„Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache“ (S.Holmes)“
1897, Atlantik. Ein hochmodernes Unterseeboot, Jules Vernes Nautilus nachempfunden, schwebt über der bedeutendsten Entdeckung des ausklingenden Jahrhunderts, wenn nicht Jahrtausends: Vor den staunenden Augen der Passagiere breitet sich das Panorama der legendärsten aller versunkenen Städte aus: Atlantis. Doch nicht die Stadt selbst ist es, die den Auftraggeber der Expedition interessiert, sondern etwas, das in ihr schlummert. Und was nie passieren durfte, passiert natürlich unweigerlich: Die Forscher öffnen ein Jahrtausende altes Siegel und ein Ausbruch von purer Magie erschüttert die gesamte Welt. Magierdämmerung.
Im London findet wenig später ein junger Reporter einen sterbenden alten Mann in einer dunklen Gasse. Der Sterbende vertraut dem Reporter, Jonathan Kentham, einen seltsamen Ring an. Mit diesem Schmuckstück überträgt er ihm eine Kraft, die Jonathan in eine Welt zieht, von der jener bislang nicht einmal geahnt hatte. Der Alte, Albert Dunholm, ist nämlich nicht nur Bühnenmagier, sondern vor allem der Erste Lordmagier eines geheimen Kreises Londoner Magiekundiger. Denn es gibt sie wirklich: echte Magier, die ihre Fähigkeiten vor der unwissenden Bevölkerung sorgfältig verborgen halten. Und sie alle haben die Veränderung gespürt, die an diesem Tag das magische Gefüge der Welt erschüttert hat. Und wenn es auch noch keiner weiß – am wenigsten Jonathan -, so ist das doch der Beginn eines magischen Erwachens, das in den nächsten Tagen nicht nur den Magiern Kopfzerbrechen bereiten wird, sondern zum Beispiel dafür sorgt, dass magische Steinfiguren durch das nächtliche London streifen. Und das ist erst der Anfang.
Mit dem Kutscher Randolph Brown, dem engsten Vertrauten des toten Lordmagiers, dessen Raben Nimmermehr und dem ebenso exzentrischen wie brillanten (und feierfreudigen) Magier Jupiter Holmes macht sich Jonathan daran, den Mörder Dunholms zu finden. Was die drei, so muss das sein, in eine Verschwörung führt, die durchaus Einfluss auf die Zukunft des britischen Empires haben könnte.
Zeitgleich brechen im ländlichen Schottland die junge Kendra und ihr Großvater nach London auf. Kendra, die ihre magische Begabung als Autodidaktin entdeckt hatte, erfährt erst jetzt, dass ihr Großvater selbst Magier ist. Giles McKellen hat ebenfalls das Ansteigen der Magie bemerkt und will in London seinen alten Weggefährten Dunholm informieren, nicht ahnend, dass jener bereits tot ist. Die Reise der beiden bleibt allerdings nicht unbemerkt und schon bald müssen sich die beiden mit Verfolgern auseinander setzen, denen jedes Mittel recht ist, damit McKellen und Kendra ihr Ziel nie erreichen.
„Trauen Sie niemals allgemeinen Eindrücken, mein Junge, sondern konzentrieren Sie sich auf Einzelheiten“ (S. Holmes)“
Perplies ist mit diesem Auftaktband zu seiner Trilogie ein wirklich guter Wurf geglückt. Die Sprache ist reich, blumig und insgesamt dem viktorianisch-romantisierten Setting durchaus angemessen. Manchem mag vielleicht die Fülle der Adjektive (und gelegentlich der Informationen) zu groß sein. Denn gerade den Einstieg macht die bildreiche Sprache nicht ganz einfach. Meiner Ansicht nach ist Perplies jedoch der Spagat zwischen „antikisierter“ Sprache, wie sie Susanna Clarke ganz gern verwendet und der etwas leichteren Kost einer Naomi Novik durchgehend gut gelungen. Und spätestens, wenn er in die ersten Action-Szenen einsteigt, beschwört er auf diese Weise wirklich filmreife Bilder herauf.
Auch die Besetzung der Figuren ist Perplies gelungen – und das bis hin zu den Nebenrollen. Jonathan als Protagonist ist angenehm durchschnittlich, was ihn zur idealen Identifikationsfigur macht, selbst wenn er gelegentlich ein wenig arg simpel erscheint. Er ist zu Anfang eine glaubwürdige Nicht-Helden-Figur, der genügend Entwickungsspielraum hat. Schön ist besonders, dass er in den wenigen Tagen, in denen die Handlung dieses ersten Bandes spielt, keine allzu großen Fortschritte macht – und damit glaubwürdig bleibt. Ihm gegenüber steht eine ganze Reihe reichlich skurriler Nebenfiguren. So zum Beispiel der brummige Kutscher Randolph, der, obwohl selbst Magier, lieber mal die Fäuste sprechen lässt oder Jupiter Holmes, bei dem man sich nie ganz entscheiden kann, ob man ihn mögen soll oder ohrfeigen will. Und der wohl nicht umsonst aus dem Zirkel der Londoner Magier ausgeschlossen wurde. Denen ging es wohl ähnlich. Das zieht sich bis hin in die Reihen der Gegenspieler, die sich ebenfalls als ein Panoptikum schillernder Figuren mit unterschiedlichsten Beweggründen präsentieren.
Das Highlight des Romans ist sicherlich sein ungewöhnliches Magiesystem. Magie als beinahe mathematisches Beziehungsgeflecht von Einflüssen aller Personen und Gegenstände aufeinander darzustellen (die Matrix lässt grüßen), das ist nicht nur eine der gelungensten und in sich logischsten Magie-Erklärungen, sondern sorgt auch für grandiose Special-Effects, die man sich ohne Mühe verfilmt vorstellen könnte. Diese „Fäden“ können nämlich von Magiekundigen nicht nur gesehen, sondern manipuliert und zu allen möglichen Anwendungen genutzt werden. Eine erfrischende Abwechslung zum üblichen Zauberspruch-Gemurmel der Fantasy also.
Ebenfalls gelungen sind übrigens auch die steif-amüsanten romantischen Gehversuche des Protagonisten, der bei aller Weltrettung nebenbei auch noch versucht, seine Herzensdame zu erobern. Wie Peter Parker gerät er dabei in den Konflikt zwischen seiner Identität als biederer Reporter und neu berufenem Held.
Aus großer Macht erwächst großes Zitatepotential
Apropos Peter Parker. Dieses immer wieder auftauchende Gefühl des „das kenne ich doch irgendwo her“ ist einer der wenigen Schwachpunkte des Romans. Natürlich ist es unterhaltsam, die vielen (mal mehr und mal weniger) versteckten Anspielungen auf literarische und historische Personen zu entdecken. Die Verbindung zwischen Jupiter Holmes und der berühmten Romanfigur ist ebenso gelungen, wie die schon erwähnte Umsetzung von Vernes Nautilus. Aber zwischen dem Raben Nimmermehr, der Katze Watson, dem Lordmagier Albert Dunholm (der nicht nur mich an Albertus Dumbledore erinnert hat), cthulhoiden Meeresbewohnern und zahlreichen weiteren Anspielungen, beschleicht einen zeitweise das Gefühl, in einer aus Versatzstücken gestrickten Parodie zu stecken. Das tut dem Roman erstaunlicherweise keinen Abbruch. Aber es lenkt tatsächlich ab, wenn man sich bei der nächsten auftauchenden Figur schon fast automatisch auf die Suche nach der Hommage macht und darüber Perplies eigentliche Geschichte etwas in den Hintergrund tritt.
Was im Übrigen auch einigen Lesern nicht gefallen wird, ist das recht abrupte Cliffhanger-Ende dieses ersten Bandes. Denn es handelt sich tatsächlich nicht um einen in sich abgeschlossenen Band einer Trilogie, sondern wirkt, als hätte Perplies recht willkürlich einen Schnitt inmitten eines durchgehenden Buches gesetzt. So wird keiner der Handlungsstränge wirklich zu Ende geführt und kaum eine Frage beantwortet. Das mag in Ordnung sein, solange man den nächsten Teil schon vorliegen hat und gleich weiter lesen kann. Solange man jedoch noch eine Weile auf die Fortsetzung warten muss, kann das ziemlich frustrierend sein.
Trotz dieser kleinen Schwächen, die sicherlich auch Geschmackssache sein mögen, kann ich „Magierdämmerung – Für die Krone“ rundweg empfehlen. Es bietet auf jeden Fall ein Lesevergnügen, auf dessen Fortsetzung ich gern warte.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich übrigens ausnahmsweise auch die Aufmachung des Taschenbuchs loben: Eine sehr gelungene, auffällige und zur Stimmung des Buches passende Umschlaggestaltung, liebevoll umgesetzte Karten auf den Innenseiten und ein angenehmer Satz – die Verpackung wird dem Inhalt gerecht. Was leider viel zu selten der Fall ist.
Diese Rezension von Tom Orgel erschien bereits auf www.phantastik-couch.de. Sie wurde hier mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht.
Magierdämmerung Band 1
Steampunk
Egmont-Lyx
2010
350
Funtastik-Faktor: 89