Zu viel: Der Weg ist das Ziel
Aislyn lebt in Valaebal, einer Fantasy-Welt, in der es Menschenähnliche in verschiedensten Gestalten, zum Beispiel in der von Halbdrachen gibt. Aber auch Drachen, auf denen man durch den Himmel fliegen kann. Noch wundersamer sind die Bücher, die es in Valaebal gibt. In ihnen tauchen Lesende ein, wie in dreidimensionale, virtuelle Erlebniswelten.
Mögest Du vor Simas Fluch sicher sein.
S. 2
wünscht der Drachenpfleger, als Aislyn von einem turbulenten Ritt auf ihrem Drachen sicher auf dem Boden landet. „Was steckt hinter dem Wunsch ?“, fragt sich das neugierige Mädchen. In der Bibliothek hofft sie, Antworten zu finden. Niall, ein Halbdrache und Bibliothekar, erklärt ihr, dass Geschichten zu Flüchen nur in Gefängnisbüchern zu finden sind, die nur Bibliotheksangestellte und verurteilte Verbrecher nutzen. Zufällig wird sie Zeugin, wie eine Verurteilte gezwungen wird, in ein Buch einzutreten. Und nutzt die Gelegenheit, selbst in das verbotene Buch „Simas Fluch“ zu gelangen.
Aislyn findet sich im Buch in verschiedenen Welten und Zeiten wieder: in einer indigenen Dorfgemeinschaft, auf einer Plantage der alten Erde um 1730 und in einer zukünftigen Welt im Jahr 2364. Eine Antwort auf ihre Frage findet sie zunächst nicht. Vielmehr schlüpft sie in Rollen von Personen, die Schlüsselfiguren zu den Abenteuern ihrer Zeit und Welt sind. Warum kann Aislyn das Buch nicht verlassen? Und warum gerät sie in unangenehme Szenen, in denen Frauen schlecht behandelt, Transsexuelle nicht angenommen, Behinderte ausgegrenzt werden und cholerische Männer das Sagen haben?
Drei Handlungsebenen, zwei Protagonisten und viele Fragen
Auf dem ersten Blick erinnert June Is‘ Weltengefüge in „Gefangen zwischen den Zeilen-Simas Fluch“ ein wenig an Tad Williams „Otherland“. Aislyn und Niall, der Bibliothekar, der ihr folgt, springen durch verschiedene Zeiten und Welten, um dort – ja, was eigentlich?
Bevor ich darauf näher eingehe, ein paar Worte zum Weltenbau, der originell und gut gelungen ist. Leider wird das Drachenreich Valaebal sehr wenig beschrieben, dafür aber die Schauplätze auf der alten Erde umso ausführlicher. Sowohl das indigene Dorf als auch die Plantagen Anfang des 18 Jahrhunderts und die Zukunftswelt werden detailreich und lebendig gezeichnet. Als Lesende hat man stets ein Bild von dem Ort vor Augen, in dem die Handlung gerade spielt. Lange ist jedoch nicht klar, wohin die Handlung denn einmal führen könnte. Ob es eine Aufgabe gibt. Niall möchte Aislyn retten, schlüpft ebenfalls in Rollen und ist bisweilen der Erzähler der Geschichte. Und plötzlich verfolgt er noch ein anderes Ziel, das mit Aislyns Geschichte nichts zu tun hat.
Der wichtigste Grund, warum das Eintauchen in diese Geschichte wirklich schwerfällt, ist, dass sie sich kaum entwickelt. „Nimm es hin“, ist das Motto für Lesende. Nimm hin, dass Aislyn einfach so in dieses Gefängnisbuch einsteigen kann, ohne dass jemand oder irgendetwas sie aufhält. Und das obwohl noch niemand lebend aus so einem Buch wieder herausgekommen ist. Nimm hin, dass sporadisch Figuren auftauchen, die die Handlung in bestimmte Richtungen lenken könnten, dies aber nicht tun. Nimm hin, dass aus dem Nichts eine Liebesgeschichte auftaucht, die zu nichts anderem irgendeinen Bezug hat. Die Liste ließe sich noch um etliche Punkte fortsetzen.
Erzählerisch und sprachlich ambitioniert, bisweilen holprig
June Is wählte für einige Kapitel die Erzählung in der „Du“-Perspektive, was in mehrerer Hinsicht interessant ist. Diese Erzählperspektive macht den Erzählenden zu einer Art Avatar für Lesende, wodurch eine enge Verbindung entsteht. In der Geschichte nehmen die Erzählenden Rollen in Geschichten ein, in denen sie andere handelnde Personen darstellen. Dieser schwierige Spagat, Geschichten auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln und den Leser durch die direkte Ansprache in der zweiten Person ebenfalls hineinzuziehen, ist der Autorin zwar nicht immer gelungen. Aber doch überwiegend. Trotz einer so komplexen Erzählstruktur ist es fast immer problemlos möglich, das Erzählte zuzuordnen. Schade, dass dies vielleicht zu Lasten einer stimmigen Storyentwicklung geht.
Dazu gesellen sich allerdings einige Formulierungen, die nicht dem Sprachgebrauch entsprechen. Zum Beispiel:
Hervor kommt eine Maschine, die ebenfalls lärmig aussieht.
S. 71
Man hörte vielleicht schon von lärmigen Kindern. Doch wie sieht etwas ‚lärmig‘ aus? Auch hierzu ließen sich zwar weitere Beispiele anführen. Von derlei Aussetzern abgesehen, liest sich der gendersensibel verfasste Text jedoch flüssig und eingängig.
Licht und Schatten bei den Charakteren
Protagonistin Aislyn kommt zunächst als naive, schließlich aber als mutige und über sich hinauswachsende junge Frau herüber. Überwiegend ist die Abgrenzung zu den Figuren gelungen, in die Aislyn in dem Gefängnisbuch schlüpft. Die Buchfigur Linda verbindet die vergangene und zukünftige Welt und überzeugt in beiden. Leider gilt dies nicht für den Antagonisten Albert, der einseitig charakterisiert wird und insgesamt zu blass bleibt. Sympathisch und cool ist hingegen Transmann Cat gezeichnet, seine entwaffnende Offenheit begeistert und macht Mut.
Fazit
Okay Buch, ich kapiere es nicht. Was ist der Zweck des Ganzen?
S. 45
Aislyns Frage prägt eine zu lange Zeit das Lesen von „Gefangen zwischen den Zeilen-Simas Fluch“. June Is hat in ihrem Buch einige gute Ideen und eine ambitionierte Art zu erzählen umgesetzt, dabei aber leider die Entwicklung der Geschichte aus den Augen verloren. Zum Ende verknüpfen sich schließlich doch noch ein paar Storyelemente aus den Handlungsebenen sinnvoll miteinander, wodurch Spannung aufkommt und die Hoffnung auf ein rundes Finale. Ein paar der offenen Punkte werden schlüssig aufgelöst, andere wesentliche Fragen allerdings nicht beantwortet. Und so bleibt ein eher durchwachsenes Leseerlebnis zurück. Immerhin nehmen wir eine Take Home Message aus der Lektüre mit: das Patriarchat ist toxisch für eine Gesellschaft, egal wo und in welcher Zeit.
Eva Bergschneider
Triggerwarnung: Misogynie, Ableismus, Rassismus, Zwangsarbeit, Gewalt
Gefangen zwischen den Zeilen, Band 1
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