Ein Cyberpunk-Krimi, der Maßstäbe setzt
Die Science-Fiction Literatur wandelt sich. Waren es in den 70er Jahren vor allem Reisen ins All und Begegnungen mit Aliens, deretwegen das Genre beliebt war, so sind es heute eher Zukunftsvisionen unserer Welt und Gesellschaft, die die LeserInnen faszinieren. Tom Hillenbrand kreierte für seinen preisgekrönten Roman „Hologrammatica“ eine ernüchternde und zugleich verheißungsvolle Zukunft und setzt sich mit den Chancen und Gefahren der Nutzung von Künstlicher Intelligenz auseinander.
Ein Vermisstenfall zieht weite Kreise
Galahad Singh arbeitet als Quästor, wie sich Privatdetektive im Jahr 2088 nennen. Die Anwältin Pierette Mumeishi beauftragt ihn, die Softwareentwicklerin Juliette Perrotte zu finden. Die Vermisste lebt normalerweise in Paris und arbeitet für eine Firma, die Verschlüsselungsverfahren für Uploads entwickelt. Sie versäumte am 14. April ein Meeting mit ihrem Chef und ist seitdem spurlos verschwunden.
Mit Uploads sind hier der Transfer des menschlichen Gehirns, gespeichert auf einem sogenannten Cogit, in einen Körperklon gemeint. Wohlhabende Bürger des ausgehenden 21. Jahrhunderts haben die Möglichkeit, einen anderen Körper anzuziehen wie eine neue Jacke. Sie nennen sich Quants und werden von jenen, die nicht ihr Gehirn digitalisieren ließen, Hohlköpfe genannt. Allerdings ist dieser Swap auf einundzwanzig Tage begrenzt. Wenn der Cogit nach Ablauf der Frist nicht in den ursprünglichen Körper zurückgeführt wird, werden die Daten aus dem Gehirn zerstört und das Gefäß erleidet einen anaphylaktischen Schock. Das Descartes Problem, benannt nach einem Philosophen, der glaubte, Geist und Körper seien getrennt und würden an einem unbekannten Ort miteinander interagieren.
Im Zuge der Ermittlungen lernt Galahad Francesca kennen, die sich zum Ende der Party in Francesco verwandelt. Die beiden Männer werden ein Liebespaar und der homosexuelle Galahad fragt sich, ob er sich nun in einen Mann oder eine Frau verknallt hat. Für seinen Fall taucht der sogenannte ‚Schwammkopf‘ (ohne digitales Gehirn) tief in die Szene der Quants ein. Diese lassen nichts unversucht, das Descartes-Problem zu überwinden und somit unsterblich zu werden.
Eine gar nicht so weit entfernte, polarisierende Welt
Bunt und trist, faszinierend und abschreckend zugleich ist sie, die Welt in „Hologrammatica“. Europa hat den Klimakollaps schon hinter sich, der Staatenbund EURUS ist überhitzt, überschwemmt und entvölkert. Das allgegenwärtige Holonet übertüncht alles, was schadhaft, veraltet oder abgenutzt ist. Der „naked space“ ist mit einer Brille sichtbar, die den Effekt des Holonetzes ausblendet.
Tom Hillenbrands Weltenentwurf konzentriert sich auf das Holonet und das Internet der Dinge. Sie dominieren den Lebensraum, bestimmen nicht nur das Aussehen der Städte, sondern stellen auch die Infrastruktur zur Verfügung. Auch ohne Körperklon ist es jedem möglich, sich optisch beliebig zu verwandeln. Oder sich mit einem Jedermann-Anzug zu tarnen, was einem Privatdetektiv die Arbeit nicht gerade erleichtert. Der Techlevel ist enorm und der Aufbruch der Menschheit zu den Sternen läuft an. Tom Hillenbrand präsentiert seine Welt mit allen schillernden und verstörenden Details. Ohne die Künstliche Intelligenz ist diese kaum vorstellbar, muss aber dennoch auf sie verzichten. Warum ist eine der spannendsten Fragen und Kontroversen dieser Geschichte.
Ein smarter Ermittler stellt sich der erneuten Apokalypse entgegen
Zur Sympathiefigur taugt Galahad Singh nur bedingt. Zwar ist er ein schlauer, selbstbewusster und temperamentvoller Typ, allerdings für seine Zeit etwas altmodisch. Das Konzept des Genderfluids, das Fran Bittner lebt, ist ihm fremd. Zugleich gibt er sich bisweilen oberflächlich und selbstzentriert, ganz der Sprüche klopfende Schnüffler. Tom Hillenbrand hat seinem Protagonisten einen interessanten Hintergrund mit auf den Weg gegeben, der für die Entwicklung der Story wichtig ist und sie vorantreibt. So lässt er ihn falsche Entscheidungen treffen, die Folgen spüren und daraus lernen. Galahad wirkt nicht wie der generische Held, trotzdem er sich bisweilen mit übermenschlichen Aktionen rettet.
„Hologrammatica“ beginnt wie ein typischer Privat Eye Krimi und entwickelt sich zum Cyber-Thriller, der wenig an denkbaren Bedrohungsszenarien auslässt. An Blut und Gewalt spart der Autor nicht. Allerdings hätte der Roman die Schwerter schwingenden „Jimmys“ nicht wirklich gebraucht. Denn die weitaus größere Spannung geht von dem Mysterium um Unsterblichkeit und dem konsequent logisch entwickelten Handeln einer allmächtigen KI aus. Hier spielt der Autor nicht nur fundiertes Wissen aus, sondern beweist auch ein Händchen für die Psychologie moralischer Dilemmata. Und somit ist „Hologrammatica“ ein ungewöhnlicher und absolut empfehlenswerter Roman. Wer Spaß an außergewöhnlichen und zugleich plausiblen Near Future Settings, sowie an multidimensionalen Rätseln und haarsträubenden Abenteuern hat, sollte ihn unbedingt lesen. Zu Recht wurde der Roman 2019 mit dem Deutschen Science-Fiction Preis ausgezeichnet, denn er braucht sich hinter dem thematisch ähnlichem „Altered Carbon-Das Unsterblichkeitsprogramm“ von Richard Morgan nicht zu verstecken.
Eva Bergschneider
Triggerwarnung: Verletzung und Tötung durch Schuss- und Hiebwaffen, Darstellung von Selbsttötung
Eine weitere Rezension zu „Hologrammatica“ findet ihr auf dem Blog Lese-Welle.
Science Fiction
Kiepenheuer & Witsch
Februar 2018
560
Funtastik-Faktor: 88
Hallo!
Sehr ausführliche Rezension, die mir sehr gut gefällt. 🙂
Ich habe das Buch gelesen und kann es auch nur weiterempfehlen. Obwohl ich sagen muss, ich persönlich mochte Galahad. 😉
Habe deine Rezension bei meiner verlinkt.
Liebe Grüße
Diana
Hallo liebe Eva,
hm, diesen Autoren kenne ich bis jetzt nur durch seine Krimi -Geschichten ..wie z.B. Teufelsfrucht, der ja eher ein kulinarischer Krimi ist mit seinem Ermittler Xavier Kieffers …
Das hier ist aber wohl ein ganz neuer Weg , den er nun begeht, wie mir scheint…hm..
LG…Karin..