Leichenberg (Pete O’Brannon Mystery 2) – Ivan Ertlov

Tour de Force zwischen Action, Spannung und bitterernsten Themen

Leichenberg-Seltene Erden, Tödliche Alpen (Pete O'Brannon Mystery 2) - Ivan Ertlov  © Homegrown Games Australia, Mann von hinten im hellbraunen Jacket vor massiver Bergwand, dunkle Wolken,
Leichenberg © Homegrown Games Australia

Von Australien nach Austria. Der zweite Band des von einem Ego-Shooter inspirierten Action-Thriller-Spektakels mit starker Phantastik-Komponente führt den Ich-Erzähler Pete O’Brannon und die geneigte Leserin nach Österreich. Wieder handelt es sich vordergründig um eine Vermisstensuche, wenn auch diesmal eine der persönlichen Art. Der knallharte Privatdetektiv mit dem direkten Draht zur Geisterwelt darf jetzt Emotionen zeigen, sogar sentimental werden. Esoterik, Mystik und Legenden spielen eine größere Rolle, was auch an der eigentlichen Location liegt. Das Untersbergmassiv, sowohl in Salzburg als auch Bayern gelegen, ist ein Ort vieler Sagen und Legenden. Aber auch so mancher angeblich unerklärlicher Phänomene. All das mischt Ertlov mit einer Geschichte über Macht und Gier, Verschwörungen und Ressourcenkriege, allzu menschlichen Emotionen und einem Hauch Science-Fiction. Kann das gutgehen?

Von gesparten Steuern zu verzweifelten Eltern

Das Motiv der „gesäuberten Homebase“ kommt auch hier vor. Es führt den Schnüffler aus New Jersey nach Delaware, dem US-amerikanischen Steuerparadies schlechthin und Hauptsitz von Millionen Firmen. Es folgt eine kurze, gut recherchierte und vor allem zynische Abrechnung mit dem entfesselten Kapitalismus an sich. Dann springt das Thema schon weiter. Pete landet in Österreich, wo zuerst eine Verfolgungsjagd, und dann verzweifelte Eltern auf ihn warten. Der Sohn, ein junger Geologe auf dem Weg zum Doktortitel, ist in einer Höhle im Untersberg verschollen. Pete soll ihn finden und lebend nach Hause bringen. Jedoch – weder der Sohn noch der Vater sind, was sie glauben zu sein. Die Suche nach dem Vermissten wird zu einer Suche nach der Wahrheit. Und es gibt viele Parteien, die diese vergraben wollen.

Das finstere Tal

Der Hauptschauplatz ist die Marktgemeinde „Schwernitz“. Eine freie Erfindung, die Ertlov in einem dunklen, abgelegenen Tal zwischen den real existierenden Ortschaften Grödig und Großgmain platziert. Es ist kein realer Ort und schon im juristischen Vorwort wird der Grund dafür angeschnitten. Es ist kaum vorstellbar, dass dieses Buch anders veröffentlicht hätte werden können, ohne eine Reihe von Klagen und Gerichtsprozessen nach sich zu ziehen. Gewalt, Rassismus und Korruption ziehen ebenso durch das Tal, wie die Geister des Unterbergs. Der Bürgermeister ist einem real existierenden nachempfunden. Die Herrschaft von katholischer Kirche, Konzernen, Banken und schwarzem Parteibuch (Österreichische Volkspartei) wird gnadenlos thematisiert, ebenso der Umgang mit den Verbrechen aus der Nazizeit. Es ist keine schöne Welt. Selbst die notdürftig aufgetragene Fassade für die begehrten Touristen blättert schneller ab als ein Apfelbaum im kalten Alpenherbst.

Zeitlöcher, Geister, Geheimagenten

Um den Untersberg ranken sich zahlreiche uralte Legenden und moderne Mythen. Vom schlafenden Kaiser Karl, dessen Bart um eine Tafel wächst und über den Zwerge oder Feen wachen, bis hin zu seltsamen Zeitphänomenen. Der magisch begabte Protagonist kann teilweise hinter den Schleier der offensichtlichen Realität blicken. Die endgültige Erklärung am Schluss überrascht aber ihn ebenso wie die Leserin. Und sogar dann bleibt das große Mysterium eher nebensächlich. Denn eigentlich geht es um den Wettlauf zwischen mehr oder weniger dunklen Mächten um seltene Erden, die sich angeblich im Berg befinden. Dass eine Postkastenfirma der CIA, die weltweit für die Vereinigten Staaten Ressourcen findet und ausbeutet, in diesem Ringen eher auf der Seite der „halbwegs Guten“ angesiedelt wird, demonstriert die Grautöne in der Welt von Pete O‘Brannon. Es gibt kein klares Schwarz oder Weiß, und selbst der Ich-Erzähler tötet mitunter ohne Reue. Gefoltert wird diesmal nicht, und insgesamt ist Band zwei trotz vieler harter Action weniger brutal als der direkte Vorgänger. Dafür umso düsterer, beklemmender und in einem gewissen Punkt aufgrund des Überfalls auf die Ukraine auch aktueller denn je.

Unterhaltung schlägt Thematik

Keine große Überraschung: „Leichenberg“ bezieht seine Faszination auch und in manchen Passagen vor allem aus den makellos recherchierten und manchen vermutlich selbsterlebten Details, die Ertlov in die Fiktion einflechtet. Das zieht die Leserin tief hinein in die Geschichte und Materie. Macht Suspense noch spannender und das Grauen noch grauenhafter. Eigentlich ein Pluspunkt. Aber wenn es um die tief verwurzelte Korruption im ländlichen Österreich, den immer noch breit gestreuten Alltagsrassismus und vor allem die Shoa geht, dann wird es kritisch. Der Autor behandelt zwar die Themen der NS Zeit und den Umgang mit ihr erstaunlich reflektiert und mit einem gewissen Fingerspitzengefühl, aber letztendlich im Unterhaltungsformat. Wenn der Ich-Erzähler erschüttert vor den Leichen ermordeter Zwangsarbeiter aus dem „Außenlager“ eines Konzentrationslagers steht, aber zehn Seiten später wieder Fäuste fliegen und Pulverdampf die Luft erfüllt, bleibt die (wichtige) Botschaft auf der Strecke. Leserinnen und Rezensenten des Vorgängers haben die Abenteuer von Pete O’Brannon gelegentlich mit jenen von Lee Childs Jack Reacher und Jim Butchers Harry Dresden verglichen. Die Ähnlichkeiten sind da, die Spannung vergleichbar. Meiner Meinung nach sind O’Brannons Abenteuer sogar deutlich besser geschrieben. Aber trotz aller Ego-Shooter-Anleihen ist Ertlovs Reihe tiefgründiger, politischer und vor allem anspruchsvoller. Mit diesem Anspruch kommt auch eine gewisse Verantwortung, der „Leichenberg“ nicht immer gerecht wird.

Fazit

Ivan Ertlov liefert hier eine gelungene Mischung aus hardboiled Krimi, packendem Geisterthriller und einem beklemmend-realistischen Blick in die Seele österreichischer Dorfgemeinschaften. Jedes Kapitel, jeder Absatz macht Laune, der Pageturner ist als solcher perfekt inszeniert. Aber gerade bei den ernsten und wichtigen Themen hätte ich mir mehr Substanz als Inszenierung gewünscht. Mehr Hintergrundinformation und Reflektion anstatt schneller Auflösung und Vorantreiben der Handlung. Dem Autor rate ich daher, sich einmal an einem „ruhigeren“ Roman oder gar Sachbuch zu versuchen. Österreicher*innen und Kenner der Materie dürfen auf meine Wertung noch einmal zehn Punkte aufschlagen.

Danke! an Gastredakteurin Tamara Yùshān

 

Leichenberg: Seltene Erden, Tödliche Alpen
Pete O'Brannon Mystery 2
Ivan Ertlov
Mystery-Thriller
Homegrown Games Australia
März 2022
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