Schräger und schöner geht Phantastik kaum
Der Heyne Verlag hat Anfang 2014 eine neue Ausgabe des Phantastik-Klassikers „Perdido Street Station“ von China Miéville herausgebracht. Erschienen sind die Bücher erstmals in den frühen Jahren unseres Jahrtausends, 2000 bei Macmillan in UK als ein Originalband „Perdido Street Station“. Zwei Jahre später erschien die deutsche Übersetzung von Bastei Lübbe in zwei Bänden, betitelt mit „Der Falter“ und „Der Weber“. Eine einbändige Amazon-Sonderausgabe mit dem Originaltitel erschien ebenfalls 2002. „Perdido Street Station“ löste wahre Begeisterungsstürme unter Lesern und Rezensenten aus und gewann 2003 den Kurd-Laßwitz-Preis als bestes fremdsprachiges Werk und die Übersetzerin Eva Bauche-Eppers den für die beste Übersetzung.
Was die Kategorisierung des Werks – ein Laster, von dem Rezensenten nicht lassen können – angeht, so tut man sich schwer, eine einheitliche Formel zu finden. Gern wird „Perdido Street Station“ zu einem der Standardwerke des Steampunk erklärt. Weiterhin trifft man auf so originell klingende Begriffe wie „New Weird“ oder „Speculative Fiction“. Einigkeit besteht darin, dass die Bezeichnungen „Fantasy“ und „Science-Fiction“ das Buch nicht treffend beschreiben, obgleich wir darin genretypische Komponenten wie Nichtmenschliche intelligente Wesen und eine Zukunftsstadt mit allerlei technischen Seltsamkeiten vorfinden.
„Perdido Street Station“ reiht sich in die Reihe der „Bas-Lag“-Novels ein, so nennt der Autor seine fiktionale Welt, in die er den Schauplatz New Crobuzon angesiedelt hat. Die Romane „Die Narbe“, „Leviathan“ und „Der eiserne Rat“ erzählen weitere Geschichten aus dieser Welt.
Zwei gefährliche Aufträge
Isaac Dan der Grimnebulin, Mensch und freiberuflicher Wissenschaftler, bekommt Besuch von Yagharek, einem Garuda. Diese Rasse vereint einen humanoiden Körper mit einem Adlerkopf und prächtigen Adlerschwingen. Doch letztere sind Yagharek gewaltsam abgetrennt worden. Der Garuda reiste aus der Wüste Cymek in den Industriemoloch New Crobuzon, um denjenigen zu finden, der ihm den Himmel zurückgeben kann. Und er hat Gold mitgebracht.
Isaacs heimliche Geliebte ist die Künstlerin Lin, eine Khepri. Diese teilhumanoide Rasse kennzeichnet der Kopfkäfer. Lin kann mit ihm aus Färberbeeren eine klebrige aushärtende Masse herstellen und Skulpturen formen. Vom gefährlichsten Gangster und Drogenboss der Stadt, einer Kreatur mit dem zu seinem Erscheinungsbild passenden Namen Vielgestalt, erhält sie einen lukrativen Auftrag. Lin soll Vielgestalts Konterfei in Kheprispei verewigen.
Während Isaac dem halbseidenen Gauner Lemuel den Auftrag erteilt, alles was fliegt und sich zu etwas mit Flügeln entwickelt für seine Studien herbei zu schaffen, beginnt Lin mit der herausfordernden Arbeit, ein Abbild der Abscheulichkeit zu erstellen.
Isaac ist neugierig auf den Entwicklungszyklus der großen bunten Raupe, die er mit vielen anderen Vögeln und Insekten in seinem Labor beherbergt. Zufällig gerät ihm eine neue Droge die Hände, und Isaac entdeckt, dass die schillernde Raupe durch Dreamshit endlich wächst und gedeiht. Doch was sich aus ihr entwickelt, wird zuerst seinen Mitbewohner in einen katatonisch leblosen Zustand versetzen und schließlich aus dem Labor fliehen. Der Falter bleibt nicht allein und New Crobuzon sieht sich einer für alle intelligenten Wesen tödlichen Bedrohung ausgesetzt, der weder mit Waffengewalt, noch mit Zauberkraft Einhalt geboten werden kann. Isaac setzt auf seine neueste Erfindung, die er eigentlich für Yaghareks Problem entwickelt hat, um den angerichteten Schaden zu beheben. Doch zugleich liefert er seine geliebte Lin einem Wahnsinnigen aus.
Kehrtwende in der Phantastik
Einiges von dem, was zu Anfang unseres Jahrhunderts noch Zukunftstechnologie war, wie zum Beispiel Computertelefone im Hosentaschenformat, gehört inzwischen zum alltäglichen Leben. Die Phantastische Literatur hat sich in Teilbereichen von einer Nischen- zur gängigen Unterhaltungsliteratur entwickelt. Mit dem Begriff Fantasy verbindet man heutzutage eher Geschichten über phantastische Wesen in unserer Welt als die Tolkieneske High Fantasy. Die Science-Fiction beschreibt hingegen nur noch selten Welten, die Glück und Harmonie dank des wissenschaftlichen Fortschritts verheißen. Zu dem Zeitpunkt, als China Miévilles Verlag „Perdido Street Station“ auf den Markt brachte, erlebte gerade die High-Fantasy durch Peter Jacksons Kinoverfilmungen von „Der Herr der Ringe“ eine Renaissance, und der Star Trek brach mit neuem Personal auf der „Voyager“ wieder einmal in die unendlichen Weiten des Universums auf. Eine düstere und bizarre Geschichte wie die in „Perdido Street Station“ schien nicht unbedingt ein breites Publikum anzusprechen. Dennoch entwarf der Autor diesen Schauplatz, der vor grotesken Absurditäten nur so strotzt, und siedelte dort Figuren von extrem fremdartiger Kultur und Erscheinung an. Und stellte somit Themen und Szenen vor, die wir heute in vielen Dystopien und Dark-Fantasy Büchern finden.
Schon auf den ersten Seiten erhebt sich vor des Lesers geistigem Auge der Industriemoloch New Crobuzon in aller Monstrosität und Scheußlichkeit. Yagharek erzählt von seinem Eintreffen in diese Stadt, die geprägt ist von maroder Industrie und Monumentalbauten, denen der Verfall anhaftet. Dazwischen breiten sich Armut, Krankheit, Ausbeutung und Kriminalität aus, der Überlebenskampf diktiert das Handeln. Regiert wird der Stadtstaat von einem Parlament. An der Spitze steht der korrupte Bürgermeister, der mit Hilfe der Miliz und einem dichten Spionagenetz jeglichen Protest der Bürger im Keim erstickt und selbst mit dem Teufel persönlich Bündnisse eingeht.
New Crobuzon ist ein Schmelztiegel vielerlei Spezies und artifizieller Gattungen wie teilhumanoide Chimären (Khepri, Kaktusmenschen, reptilienartige Vodyanoi) oder chirurgisch veränderte Wesen (Remaden). Eine soziale Hackordnung von der Mehrheit der Humanoiden abwärts zu den Minderheiten hat sich etabliert und jede teilhumanoide Spezies bevölkert ein eigenes Ghetto. Speziesübergreifende intime Beziehungen sind geächtet, ein Paar wie Isaac und Lin lässt sich nur in befreundeten Kreisen gemeinsam sehen. So streift die Geschichte auch ethische Kontroversen wie Entartung via Bioengineering und Rassismus.
In dieses düstere Setting hinein platziert der Autor eine Abenteuergeschichte mit allem, was Phantastik spannend und unwiderstehlich macht; grausame und tödliche Kreaturen, einen gebrochenen Helden, viele obskure Helfer und Gegner und keine geringere Mission als eine Welt vor dem Untergang zu bewahren. Ein ultraspannender Plot also, der, nachdem er einmal an Fahrt aufgenommen hat, den Leser bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt. Darüber hinaus machen andere Qualitäten „Perdido Street Station“ zu einem besonderen Leseerlebnis. Der Autor beschreibt diese fremdartige und abstoßende Welt seitenreich und in allen Details und zwar in einer Sprache, in die man sich erst einmal hineinlesen muss. Trotzdem gelingt es Miéville, den Leser mitzunehmen nach New Crobuzon, Isaac, Lin, Yagharek und Derkhan werden zu Freunden, die man bei einem riskanten Vorhaben begleitet.
Bisweilen überschreitet Miéville Grenzen. Die des guten Geschmacks, wenn er zum Beispiel die Erscheinung des Zombies, der vom Konstrukt Konzil ferngesteuert wird, mit allen optischen und olfaktorischen Widerwärtigkeiten beschreibt. Die unserer Moralvorstellungen, wenn es um die einkalkulierten Opfer von Experimenten und Abwehrmaßnahmen geht. Allerdings tut China Miéville dies mit Bedacht, nie einem Selbstzweck dienend und stets den grausamen Notwendigkeiten geschuldet. Und bei all dem Schrecken und der Niedertracht der Gesellschaft New Crobuzons, geht es am Ende schlicht um den Wert einer Freundschaft und Liebe. Darum welcher Zweck welche Mittel heiligt und wie die Moral verschiedene Kulturen trennt und verbindet.
Wer sich gern von einem komplexen, bisweilen paradox erscheinenden Roman herausfordern lässt und einen mehr als vielfältigen Mix aus Fantasy, Horror und SciFi Thriller schätzt, für den ist China Miévilles „Perdido Street Station“ Pflichtlektüre.
Diese Rezension von mir (Eva Bergschneider) erschien zuerst bei Booknerds.de
Steampunk/Weird Fiction
Heyne
2006
848
Funtastik-Faktor: 90