Schwingen aus Stein – Ju Honisch

Phantastisches Bayern im späten 19. Jahrhundert

Schwingen aus Stein - Ju Honisch © Feder & Schwert
Schwingen aus Stein © Feder & Schwert

Das Übel, vor dem die Gouvernante Konstanze und ihr Schützling Clarissa fliehen, holt sie auf dem Schiff der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft ein. Bei der Ankunft in Passau stehen die Inquisitoren der Fraternitas Lucis am Ufer, um das Mädchen abzufangen, das sie für eine Besessene halten. Dabei taucht Clarissa lediglich von Zeit zu Zeit in ihre eigene Welt ein. Doch nach dem Tod ihres Vaters sah ihr Onkel  nur diese Möglichkeit, an seines Bruders Erbe zu kommen. Er beauftragte Fraternitas Lucis, seine Nichte aus dem Weg zu räumen. Die beherzte Gouvernante macht sich daraufhin mit dem Mädchen auf den Weg nach Passau, in der Hoffnung Clarissa bei einer Tante unterbringen zu können.

Bruder Douglas Sutton, Meister des Magier Ordens Aroria und dessen Schüler Ian McMullen erhalten den Auftrag, zwei Bücher der Loge zu suchen, die seit über hundert Jahren verschwunden sind.  Ihr Weg führt auch sie nach Passau, wo der Amerikaner den jungen Schotten in ein  Etablissement de Plaisir (Freudenhaus) führt. Madame Elvira bietet ihm ihre Neuerwerbung an. Doch Ian möchte nichts anderes, als das junge Mädchen aus dem Bordell befreien. Notfalls mit handgreiflichen Mitteln.

Inquisitoren, Menschenhändler, Magier, eine couragierte Lehrerin und ein geheimnisvoller Landadeliger. Sie alle treffen in Passau aufeinander und geraten im Verlauf der abenteuerlichen Jagd vom Bayrischen Wald  in eine Parallelwelt der Geister und Wechselwesen. Ein jeder muss sein wahres Gesicht zu offenbaren, um das Geheimnis eines Fluchs zu lüften.

Geschichte trifft auf Fantasy

Bayern um 1870, das ist der Schauplatz auf dem viele Geschichten der Autorin Ju Honisch angesiedelt sind, bisher  zum Beispiel in den Romanen „Obsidianherz“, „Salzträume – Band 1 und 2“ und nun „Schwingen aus Stein“.  Ju Honischs Geschichten zeichnet ein authentischer historischer Hintergrund aus. Der Leser fühlt  sich in die Vergangenheit versetzt, die die Autorin mit fundiertem Wissen und Liebe zum Detail beschreibt. Trotzdem das viele Geschehnisse übernatürlicher Natur sind. Diese spezielle Kombination aus Phantastik und Historie in ihren Romanen hat der Autorin bereits eine treue Leserschaft gesichert.

Ju Honischs Stimme zu lauschen ist ein Erlebnis

„Schwingen aus Stein“ wurde Ende 2013 bei Feder & Schwert veröffentlicht und im Folgejahr für den Phantastik-Preis“ Seraph“ in der Kategorie „Bestes Buch“ nominiert. Der seitenreiche Roman konnte sich gegen die Werke  bekannter Autorenkollegen wie Oliver Plaschka („Das Licht hinter den Wolken“)  und Christoph Marzi („Die wundersame Geschichte der Faye Archer“) durchsetzen und gewinnen. Bereits in den Lesungen auf der Leipziger Buchmesse konnte das Publikum die mystische Spannung spüren, die diesen Roman ausmacht. Das liegt an der schaurigen Atmosphäre, die von der Geschichte ausgeht, aber auch an Ju Honischs engagierter Art zu lesen. Die Autorin und Sängerin hat eine wunderbare tragende Theaterstimme, mit der sie ihr Publikum in den Bann zieht. Wer gern einer Kostprobe ihrer Kunst lauschen möchte, mag in meinen Artikel von der Fantasy-Woche im Februar 2017 hineinschauen – und hören. Ihre Lesung aus  dem nachfolgenden Roman „Seelenspalter“ ist hier verlinkt.

Das Abenteuer beginnt mit Clarissas und Konstanzes Flucht, auf der die Damen in Lebensgefahr geraten. Im nächsten Kapitel  lernen wir die Loge des Aroria Ordens  kennen, Meister Sutton und sein Akolyth erhalten ihren Auftrag. Kurze Kapitel, die oft mit Cliffhängern enden und jeweils aus der Sicht des jeweiligen Protagonisten erzählt werden, prägen den Roman und sorgen für stetige Abwechslung und Spannung. Manchmal wünscht man sich sogar, man hätte etwas länger in einer Szene verweilen dürfen.

Zunächst haben die Gouvernante und ihre Mitstreiter gegen irdische Gauner sowie klerikale Dämonenjäger zu kämpfen.  Doch schon bald überqueren sie die Grenze zur Anderswelt und begegnen Figuren, deren Absichten sich nicht so einfach durchschauen lassen. Auch für den Leser wird es jetzt schwerer, das Geschehen einzuordnen und man muss die eine oder andere Passage mehrfach lesen, um den Überblick zu behalten. Zeitweise wird der Lesefluss dadurch beeinträchtigt und das Eintauchen in die Geschichte erschwert.  Aber trotzdem lassen die vielen bedrohlichen und bizarren Begebenheiten den Leser mit den Protagonisten mitfiebern.  Die gruselige Atmosphäre fesselt und sorgt für Gänsehautmomente. Außerdem kann man sich über die erfrischenden Dialoge der beiden Magier herrlich amüsieren, eintönig wird die Lektüre also sicherlich nicht.

Honischs Fantasywesen sind individuelle Persönlichkeiten

Ju Honisch erschafft phantastische Figuren ohne irgendeines der gängigen  Klischees zu bemühen. In „Schwingen aus Stein“ treffen wir Geister, Werwölfe, Wechselwesen und Zauberer, also Charaktere, die jeder Fantasy-Liebhaber kennt. Doch hier entdeckt man ganz neue Seiten an ihnen.  Absolut glaubwürdig beschreibt die Autorin zum Beispiel den inneren Konflikt des Werwolfs, der einerseits hungrige Bestie, andererseits aber auch Beschützer ist. Auch den Rabenmann hat sie exotisch, vor allem aber ambivalent charakterisiert. Der Leser kommt diesen fremdartigen Figuren ebenso nah, wie den Protagonisten, die nichts oder wenig Übernatürliches an sich haben. Sympathieträger sind die beiden Magier Sutton und McMullen. Der wortwitzige Amerikaner hat, trotz seiner magischen Fähigkeiten, einiges einzustecken. Sein Schüler Ian muss sich allerdings nicht nur skrupelloser Gegnern erwehren, sondern mit jenen Fähigkeiten umgehen lernen, die er aus dem „Salzträume“  Abenteuer mitgebracht hat. Diese beiden klugen und unterhaltsamen  Magier kann man sich gut als Seriendarsteller einer Fantasy-Krimi Reihe vorstellen.

Ju Honisch erzählt „Schwingen aus Stein“ in einer leicht antiquiert klingenden Sprache, die perfekt zur historischen Kulisse passt und sich trotzdem wunderbar flüssig lesen lässt. Handlung und Schauplätze wirken in dem  historischen und surrealen Setting echt und  lebendig, denn hier erwachen Figuren zum Leben, die in kein Gut-Böse Schema passen. Die düstere Atmosphäre peppt sie mit einem guten  Schuss Humor auf, der dem Roman auch eine amüsante Note verleiht. „Schwingen aus Stein“ ist Fantasyliteratur jenseits des Genreüblichen und ein echter Lesegenuss.

Diese Rezension erschien zuerst bei Literatopia.de

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Schwingen aus Stein
Ju Honisch
Fantasy
Feder & Schwert
2013
608

Funtastik-Faktor: 80

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