Überraschend ernst, erfrischend bedeutsam
Nachdem Ivan Ertlovs Space Opera rund um das Prospektorat Stargazer im dritten Teil „Bürgerkrieg“ ein zwar unterhaltsames, aber für die Welten und ihre Völker letztendlich belangloses Abenteuer lieferte, waren die Erwartungen an Band 4 bei mir eher gedämpft. Ein Monster der Woche, das wieder einmal alle Fraktionen im Kampf dagegen vereint. Eine epische Finalschlacht, die knapp gewonnen wird. Danach Happy End für die Helden und die gewohnte Rückkehr zum Status Quo. Ende der Reihe.
Ich habe mich getäuscht – in jeder Hinsicht.
Auf Tuchfühlung mit H. P. Lovecraft
Dass „Stargazer“ ebenso wie alle anderen Werke des Autors in einer Welt angesiedelt ist, in der zumindest Teile des Cthulhu-Mythos gruselige Realität sind, überrascht nicht wirklich. Das wurde von ihm bei einem kleinen Gewinnspiel auf seiner Facebook Seite auch bestätigt. Aber die Deutlichkeit, mit der dieses Element in „Stargazer Weltenrichter“ zum Tragen kommt, ist zumindest im Science Fiction Setting neu. Denn der namensgebende Titan, der dabei ist, alle Welten und Sonnen zu verschlingen, wird uns als eine Abspaltung Yog-Sothoths verkauft. Zumindest ist dies eine der Theorien, über die sich die bedrohten raumfahrenden Völker den Kopf zerbrechen. Aber nicht allzu lang. Denn schon bald wird klar, dass man diesen Gegner nicht besiegen kann und Flucht die einzige Hoffnung auf Überleben darstellt.
Flüchtlingskrise 4500 A.D.
Nicht zum ersten Mal thematisiert Ertlov den Umgang einer Gesellschaft mit Flüchtlingen. Schon im zweiten „Klingensänger“ gab es ein beklemmendes Kapitel namens „Absaufen lassen“, das kein Blatt vor den Mund nahm. Hier aber betrifft es ganze Sonnensysteme, unzählige Völker mit unterschiedlichen Mentalitäten. Und ebenso unterschiedlich fallen die Reaktionen aus: Die ohnehin schon zur Esoterik neigenden Toronk verfallen angesichts des Weltenendes in religiösen Wahn, die mental defensiv eingestellten Gulptar begehen aus Panik eine Abscheulichkeit, und die Menschen – nun, sie sind Menschen. Die Menschlichkeit geht als erste verloren. Hier verlässt Ertlov endgültig den selbst definierten Trash Bereich und schafft es, verstörende Bilder mit nachdenklichen, erstaunlich leisen Tönen zu untermalen und noch beklemmender werden zu lassen. Korruption, Gier, Misstrauen und Xenophobie schaukeln sich auf. Als schließlich mit „Angst frisst die Seele auf“ eines der ersten großen deutschen Antirassismus-Werke zitiert wird, wirkt das weder aufgesetzt noch im Szenario fehl am Platz. Sondern einfach goldrichtig.
Es ist nicht das sternefressende Monster aus einer anderen Dimension, das einem die Gänsehaut über den Rücken laufen lässt. Nein, es sind die Abgründe in den Seelen der Opfer, die Abscheulichkeiten, zu denen wir fähig sind, wenn wir von Angst getrieben werden. Es sind nicht abgrundtief böse Wesen, nicht Antagonisten, die den größten Blutzoll fordern, sondern ganz normale Bürger. Nachbarn, Freunde, Bekannte. Ihre innere Logik ist nachvollziehbar, ihr Handeln erklärbar – was es nur umso tragischer, düsterer und verstörender macht. Selbst Dila und Bettsy, Frank und Troshk, Yrsha und Florbsh wären vermutlich nicht dagegen gefeit. Es ist ihre besondere Aufgabe in diesem letzten Aufbäumen der Zivilisationen, die ihnen ein mentales Schutzschild schenkt: Überleben. Um jeden Preis.
Opfergang aus Idealismus
Eine vollkommen neue Ausgangssituation: Das Überleben der Stargazer-Crew hat für alle Verteidiger und Fliehenden die höchste Priorität. Yrsha und ihre Fähigkeiten sind die letzte Linie, der Plan C, um eine Weiterexistenz für alle raumfahrenden Völker zu garantieren, wenn alle Stricke reißen. Schlachten werden vermieden, Risiken minimiert. Und doch erwartet die Leserin ein spektakuläres, kampfbetontes Finale, das letzte Opfer der inzwischen ans Herz gewachsenen Helden. Der Weltenrichter, kein wirklicher Antagonist, sondern eher eine Naturgewalt, wird zum Symbol einer tieferen Wahrheit: Überleben ist nicht genug. Nicht, wenn die Menschlichkeit dafür geopfert wird. Dilara, Frank und ihre Freunde erkennen das – und ziehen die Konsequenz. Es wird gerettet und gehadert, gekämpft und gestorben, im Spannungsfeld zwischen persönlichem Glück und dem Wohl der anderen, zwischen Treue, Loyalität und dem, was die Heldinnen und Helden für richtig halten. Und wichtig genug, alles dafür zu geben.
Ganz großes Kino, emotional und episch, gleichzeitig erstaunlich feinfühlig umgesetzt.
Fazit
Drei Bände Anlauf hat Ertlov gebraucht, um mit „Stargazer“ an die Höhepunkte seiner „Avatar„-Reihe anzuschließen, aber nun ist es geschehen. „Weltenrichter“ ist ein erstaunlich tiefgründiger, hochpolitischer und dabei dennoch konsequent unterhaltsamer Roman. Von Klamauk sind wir weit entfernt, die Comedy ist gekonnt, aber selten und subtil. Ist es noch Science-Fiction oder doch schon eher eine als futuristischer Roman getarnte politische Allegorie? Darüber können sich gerne die Genre-Puristen streiten, für mich persönlich aber ist dies der beste Weltraum-Roman des Jahres. Ich freue mich auf die (doch noch angekündigte) Fortsetzung und hoffe, dass sie dieses Niveau halten kann.
Danke an Gastredakteurin Tamara Yùshān
After Terra, Band 4
Science Fiction, Space Opera
Homegrown Games Australia (eBook), Belle Epoque (Taschenbuch, angekündigt)
Dezember 2021 (eBook), Februar 2022 (Taschenbuch, voraussichtlich)
eBook
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MNS Art Studio
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