Über den wilden Fluss – Philip Pullman

Wie ein Gastwirtssohn zum Helden wird

Über den wilden Fluss - Philip Pullman © Carlsen Verlag
Über den wilden Fluss © Carlsen Verlag

Malcolm bekommt in der Gaststube seiner Eltern allerlei Überraschendes mit. Von drei geheimnisvollen Herren, einer ist der ehemalige Lordkanzler, erfährt er, dass das gegenüber liegende Kloster ein Baby versteckt. Eine Dame verrät ihm, dass sie von einem kompassähnlichen Instrument Hinweise über die Zukunft erhält. Und ein zwielichtiger und charismatischer Mann beweist, dass nicht alle Menschen liebevoll mit ihrem Dæmon (ein zweites Ich in Tiergestalt) umgehen.

Malcolm gerät zwischen die Fronten des Geistlichen Disziplinargerichts und des Geheimbunds Oakley Street. Zufällig gerät er an eine kryptische Botschaft, dessen Überbringer kurz darauf ermordet wird. Die Empfängerin, die Wissenschaftlerin Dr. Hannah Relf, freundet sich mit Malcolm an und nutzt seine Informationen. Wenn Malcolm nicht in der Gaststätte hilft, oder mit Hannah tiefsinnige Gespräche führt, kümmert er sich um das Baby Lyra. Hinter der Kleinen sind die Männer des GD her, jedoch kommen sie nicht an den couragierten Nonnen vorbei. Doch dann kommt die Flut. So heftig, dass sie Gebäude des Klosters überschwemmt und zum Teil wegspült. Als auch noch ein wahnsinniger Wissenschaftler versucht, das Baby zu entführen, entschließt sich Malcolm zu einer verzweifelten und tollkühnen Tat.

Wie die Kirche zur Staatsmacht wird

Der erste Teil der „His Dark Materials“ Reihe von Philip Pullman „Der Goldene Kompass“ erschien 1995, gefolgt 1997 von „Das magische Messer“ und im Jahr 2000 mit „Das Bernstein Teleskop“ beendet. Dass Autor und Verlag die äußerst populäre Steamfantasy-Serie weiter verfolgen, überrascht nicht, denn aus ihrer Komplexität ergeben sich viele mögliche spannende Handlungsmotive. Verwunderlich ist lediglich, dass dies 17 Jahre dauerte. Ein Prequel wie „Über den wilden Fluss“ zu schreiben, lag ebenfalls auf der Hand. Denn viele Leser wollten sicherlich immer schon wissen, wie der politische Hintergrund der Serie mit der Kirche als Staatsmacht entstanden ist. Ein wenig geht der Roman darauf ein, allerdings nicht sehr intensiv. Wir erfahren immerhin, wie die Kirche anfing, Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben. Nämlich indem sie die Bürger zu Denunzianten machte (der IM der Stasi lässt grüßen). Der Bund des heiligen Alexander kommt an Malcolm Schule. Er verpflichtet teilnehmende Schüler, Mitschüler und Lehrer zu verpfeifen, die sich nicht kirchenkonform verhalten oder gar Kritik üben. Bestrafung ohne Gerichtsverfahren ist ihnen sicher. Darüber hinaus erfahren wir lediglich, dass es vorher eine säkulare Regierung gab, der auch der Lordkanzler angehörte. In „Über den wilden Fluss“ baut die Kirche ihre politische Macht nach und nach aus, verfolgt Wissenschaftler und Kirchenkritiker.

Zu stromlinienförmig

„Über den wilden Fluss“ folgt fast ausschließlich dem Erzähler, der Hauptfigur Malcolm. Er ist ein liebenswerter Junge, der vor allem auf der Bootsfahrt durch das überschwemmte Oxfordshire Mut und Cleverness beweist. Die wichtigste Nebenfigur ist Dr. Hannah Relf, eine kluge und empathische Frau, die selbstbewusst als Wissenschaftlerin und Agentin den männlichen Kollegen den Schneid abkauft. Die schillernde Persönlichkeit des Lord Asriel greift hier nur kurz in die Handlung ein, das gleiche gilt für den Gypter van Texel. Zu den personellen Lichtblicken zählt auch der Bösewicht Bonneville, der seinen Dæmon quält und Lyra jagt. Leider bleibt auch dessen Charakterisierung oberflächlich und lässt Fragen offen. Ein ganzes Ensemble an interessanten Figuren, wie wir es aus „Der Goldene Kompass“ kennen, tritt hier leider nicht auf. Das ist wirklich schade, Philip Pullman hat vorhandenes Potential verschenkt.

Ähnliches gilt für die Handlung, sie verläuft stromlinienförmig neben Malcolm. Die seltenen Schauplatzwechsel in das Jordan College oder in Dr. Relfs Haus ändern wenig daran, dass die Perspektive fast immer die gleiche ist. Man fragt sich, warum keine Spannung aufkommen will, obwohl Malcolm ein gefährliches und packendes Abenteuer meistert. Es liegt sicherlich auch an der einseitigen Konstellation von Jäger und Gejagtem. Malcom, Alice und Lyra als Getriebene, die Feinde im Nacken. Und wir wissen ja, was am Ende mit Lyra geschieht. Philip Pullman hat es leider nicht geschafft, Malcolm Geschichte abwechslungsreich und mit Wendungen zu erzählen, die den Leser überraschen. Ganz zum Schluss, als wenn dem Autor noch eingefallen wäre, dass er ein paar Fantasy-Elemente braucht, tauchen eine Fee und ein Wassergeist auf. Aber auch sie sind nur beiläufige Randfiguren, die nichts Wesentliches zur Handlung beitragen. Wieder schade und wieder Potential verschenkt.

Der typisch Pullman‘sche atmosphärische Schreibstil rettet den Roman

Nach der Lektüre von „Über den wilden Fluss“ habe ich noch einmal einige Seiten vom „Goldenen Kompass“ gelesen und finde bestätigt: Ja, das ist eine dynamische und schillernde Handlung mit vielen charismatischen Figuren. „Über den wilden Fluss“ bleibt damit verglichen blass und eindimensional.
Dass ich dennoch Freude an dem Roman hatte, liegt an den zwei bis drei originellen Akteuren, den Dialogen zwischen Malcolm und seinem Dæmon Asta und an Pullmans wunderbarere Schreibe. Der Autor versteht es einfach, mit wenigen aber prägnanten Worten Atmosphäre zu erschaffen, egal ob zwielichtig, düster oder bedrohlich. Dafür weiß er vor allem die Emotionen der Dæmonen als Spiegelbilder ihrer jeweiligen Personen wirkungsvoll einzusetzen. Allein das zu lesen, macht immer wieder Spaß.

Eva Bergschneider

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Über den wilden Fluss
His Dark Materials - Reihe, Prequel
Philip Pullman
Fantasy
Carlsen Verlag
November 2017
560

Funtastik-Faktor: 63

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