Woman, Eating – Claire Kohda

Woman, Eating - Claire Kohda © Virago Press, weisser Hintergrund, hellblaues Quadrat, darin aufgeschnittener Apfel mit vielen blutroten Adern, Beschriftung mittelblau
Woman, Eating © Virago Press

Zimmer ohne Aussicht, Leben vielleicht auch

Die Protagonistin des Romans heißt Lydia, ist 23 Jahre alt und Vampirin. Ihr Vater war ein japanischer Künstler, ihre Mutter ist eine Vampirin aus dem heutigen Malaysia und, aufgrund ihres Alters, dem vorhergehenden Kolonialgebiet British Malaya. Lydia ist bei ihrer Mutter in England aufgewachsen. Die vampirische Existenz ist der Grund für den Selbsthass der Mutter, die den Hass auf Lydia zu übertragen versuchte. In der Gegenwart der Erzählung liegt Lydias Mutter mit Alzheimer-Diagnose in einem Hospiz und hat keine Erinnerungen mehr an ihre Herkunft.

Lydia ist nun alleine in London, mietet ein fensterloses und deshalb kostengünstiges Zimmer in einem Gebäude, in dem junge Künstler*innen leben und arbeiten. Sie bekommt schnell einen Job in einer Galerie. Lydia hat gelernt, sich von Schweineblut zu ernähren, das ihre Mutter fassweise von einer Schlachterin bekam, die nie Fragen stellte. Nun aber hat Lydia Versorgungsprobleme, die sie zunehmend hungrig werden lassen. In ihrem Gebäude lebt Ben, in den sich Lydia vielleicht verliebt. Sie ist sich aber nicht sicher, ob sie seine Nähe doch nur wegen ihres Hungers sucht.

Blut und nicht-essbare Nahrung

Lydia ist fasziniert von menschlicher Nahrung, sie beschäftigt sich mit Lebensmitteln und Rezepten, fragt sich, wie dieses oder jenes wohl schmecken könnte. So schaut sie sich wieder und wieder nahrungsbezogene YouTube-Videos oder Instagram-Hashtags an. Sie möchte gerne einmal essen, was ihr Vater gemocht hat, Sashimi oder Ramen.

Durch ihren Vampirismus entwickelt sie eine Obsession für und eine Abneigung gegen Menschen-Nahrung. Sie stellt irgendwann fest, dass das Sein eines Menschen auch dadurch bestimmt wird, was an Nahrung auf den Teller kommt. Bald macht sie sich Gedanken darüber, ob sie von ihrem Vater etwas Menschliches hat, oder ob ihre Mutter recht hatte mit der Äußerung, sie seien Dämonen.

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust

Lydia ist eine junge Frau in existenzieller Krise, die außerhalb der sie umgebenden Realität zu leben scheint, ähnlich der Hauptfigur in Michael Almereydas Film „Nadja“ (1994), der sich auf den gleichnamigen Roman des französischen Surrealisten André Breton aus dem Jahr 1928 bezieht. Kohdas Vampirin ist zu menschlich, um als klassische Figur durchzugehen. Der Vampirismus und die Vampirin sind Metaphern. Die Protagonistin wurde von einem Menschen und einer Vampirin gezeugt, von einer Vampirin ausgetragen, als Mensch geboren und als Baby von ihrer Mutter vampirisiert. War sie einmal Mensch und ist nun Vampirin? So einfach ist das nicht:

„I think I have known for a while that neither side of me can be separated from the other…; I can’t force one side to be dormant while I live a life pretending to only be the other side; I can’t starve either side out of myself. Really, I don’t even have sides at all. I’m two things that have become one thing that is neither demon nor human.“

S. 231f

Das Zitat deutet an, dass sich die Vampirin in einem aktuellen gesellschaftlichen Diskursfeld bewegt, beschrieben durch ihre Herkunft, ihre kulturellen Normen, ihr Anderssein. Sie betreibt den Prozess der Selbstfindung aus ihrer Doppelexistenz als Mensch und Vampirin heraus. Diese Doppelexistenz wirkt traumatisierend, weil Lydia sie ständig in beschränkender Weise mitdenken muss.

Claire Kohda scheint davon auszugehen, dass Menschsein bedeutet, ständig navigieren zu müssen in einem Meer der Unvollkommenheiten und Begehrlichkeiten, Schwierigkeiten damit zu haben, etwas nur haben oder sein zu können durch temporären oder vollständigen Verzicht auf etwas anderes. Dieses Problem wird offensichtlich beispielsweise im Motiv des Hungers. Es gibt im Roman Charaktere, die nehmen sich, was sie wollen und wann sie es wollen. Aufgrund sozialer Parameter wie Schichtenzugehörigkeit oder Gender brauchen sie sich darüber nicht einmal Gedanken zu machen. Diese Charaktere sind von Kohda als langweilig und gelangweilt, oberflächlich und weniger human als Lydia inszeniert.

Entkopplung: Traurig und dem Leben entfremdet

Einen großen Teil des Buches macht der innere Monolog aus, je nach Sichtweise stark introspektiv oder als krasse Nabelschau. In der selbstzentrierten Erzählung fehlt oftmals der Fokus, Lydia mäandert auf teils repetitive Weise, ohne dass eine Zielausrichtung erkennbar wäre. Das lässt sich mit der Disposition der Protagonistin erklären, ist aber dennoch ein wenig mager.

Lydias Erzählung ist schwermütig, spiegelt ihre depressiven Tendenzen, ist aber auch durchsetzt mit Humor, einem Humor ohne Leichtigkeit. So fragt sie sich, wie es sein kann, dass Vampire in Filmen und Büchern immer so wohlhabend sind, während sie in wenigen Monaten kein Geld mehr haben wird, um ihre Miete zu bezahlen.

Lydia wird als Vampirin charakterisiert durch ihren Bluthunger, ihre hervorragende Nachtsicht, Kopfschmerzen, die Helligkeit verursacht. Während klassische Vampirfiguren durch das Blut eine Verbindung zum Opfer herstellen, trinkt Lydia mit dem Blut gleichzeitig die Biografie, was immer das für sie bedeutete in den vielen Jahren des Schweinebluts. Einen kurzen Einblick in dieses Problem gibt sie, als sie ein paar Tage lang Entenblut trinkt.

Manche Dinge sind nicht ausgearbeitet, fliegen nur an Lydia und den Lesern und Leserinnen vorüber wie ein Vögelchen. Alles liest sich irgendwie, als sei ein Stecker gezogen worden, was natürlich das Lebensgefühl Lydias spiegelt. Dieses Lebensgefühl ist allgemein bestimmt durch (explizierte) Existenzängste ihrer Generation, die Fragen, was sie vom Leben erwarten kann, womit sie Geld verdienen will, wie und wo sie leben will. All dies vor dem verstärkenden Hintergrund des Andersseins, der Vorurteile, die ihr entgegengebracht werden.

Dabei thematisiert Kohda relevante „-ismen“. So ist der Galerieleiter Gideon ein mittelalter weißer Mann, der sexuell übergriffig wird. Verschiedene Diskriminierungskategorien (so POC, Frau, kulturelle Differenz) wirken als Diskursmarker.

Lydia hat wenig bis keinen Kontakt mit anderen. Sie weist Merkmale sozialer Entkopplung auf.

Fazit

Claire Kohdas „Woman, Eating“ ist ein Vampirroman ohne Blutopfer, Gewalt, Spannung, Horror. Dafür eine Charakterstudie einer jungen Frau, die persönliche Weichenstellungen vornehmen, existenzielle Entscheidungen treffen muss. Als sie gegen Ende eine eindeutige Entscheidung trifft, weist der Roman Horrorelemente auf.

Danke an Gastredakteur Holger Wacker für die Besprechung des englischsprachigen Originalbands.

Woman, Eating
Claire Kohda
Phantastik Plus
Virago Press
April 2022
Buch
248
Sophie Harrs (Titeldesign), Stefan Visan (Titelfoto)
62

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