Der Kampf in ein neues Leben lohnt sich – für Mensch und KI
Jane 23 ist zehn Jahre alt und eine Verbesserte. Sie lebt als Arbeitssklavin in einer Fabrik zusammen mit anderen zehnjährigen Janes. Ältere oder jüngere Kinder tragen andere Namen, innerhalb ihres Jahrgangs allerdings immer denselben, ergänzt mit einer Nummer. Die Janes sortieren Schrott und beurteilen ihren Wert. Jane 23 ist besonders gut darin, technischen Schrott zu beurteilen. Sie begreift schnell, wie er funktionieren sollte.
Nach einer Explosion in der Fabrik flieht Jane 23 nach draußen, in eine Welt, die sie bisher nicht kannte. In eine lebensfeindliche, gefährliche Welt. Jane findet ein kaputtes Shuttle und reaktiviert die Künstliche Intelligenz namens Eule. Und lernt auf dem Planeten zu überleben. Eule und Jane setzen sich ein Ziel: Sie wollen entkommen.
Sidra hieß einst Lovelace und war die KI eines Raumschiffs. Sie sah alles, wusste alles und konnte ihre Crew-Kameraden und Freunde vor jeder Gefahr warnen. Seit einem Unfall steckt sie ohne Lovelaces Persönlichkeitsmerkmale in einem Bodykit. Eingesperrt in einem menschähnlichen Körper, der sie schrecklich einschränkt. Die Ingenieurin Pepper nahm sie auf. Gemeinsam mit Pepper und ihrem Freund, dem Künstler Blue, lebt Sidra nun auf Port Coriol, einem Schmelztiegel unterschiedlichster Spezies. Doch Sidras Identität muss geheim bleiben, denn in der Galaktischen Union (GU) sind KIs in menschlichen Körpern verboten. Das und die Fesseln, die das Kit und ihr Programmcode Sidra auferlegen, vereinfachen ihr die Eingewöhnung in das neue Leben nicht gerade.
Eine Space Opera und Geschichte über das (nicht) ganz normale Leben
»Sidra sah der Farbe beim Trocknen zu und verarbeitete dabei wieder und wieder die Ereignisse des Tages. Blue saß neben ihr, die Hand des Kits in seiner, offenbar hatte er es nicht eilig. Du musst es versuchen. […] Vielleicht musste sie aufhören, gegen das Kit anzukämpfen. Vielleicht konnte sie ja doch mehr wie alle anderen sein. Sie blickte dem Portrait in die Augen und stellte sich vor, wie es wäre, von sich angeschaut zu werden. « [S.174]
„Zwischen zwei Sternen“ ist zwar Teil zwei der „Wayfarer“- Serie von Becky Chambers, die Geschichte ist auch ohne Vorkenntnisse aus dem ersten Band „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“ lesbar und verständlich. Handlung und Protagonisten sind neu und eigenständig. Lediglich den Schauplatz Port Coriol, eine Art Weltraum-Trödelmarkt auf einem Mond, kennen wir bereits aus dem Auftaktband.
Wir begleiten zwei Lebewesen in abwechselnd erzählten Kapiteln. Sie wurden beide in ein neues, ihnen unbekanntes Leben hineingeworfen. Zum einen geht es um eine KI, die sich in einem fremden Körper in einer menschenähnlichen Gesellschaft zurechtfinden muss. Sidras Abenteuer bestehen darin, in einem Job zu bestehen, an Festen teilzunehmen und Freundschaften zu schließen. Hört sich die Handlung banal an? Ist sie nicht. Denn Becky Chambers beschreibt Sidra als einen einzigartigen Charakter. Als KI ist sie Pepper und Blue kognitiv weit überlegen. Andererseits gelingt es ihr nur durch die liebevolle Zuneigung ihrer Freunde in dieser Gesellschaft einen Platz zu finden. Eine individuelle Persönlichkeit zu entwickeln erfordert dagegen Eigeninitiative, ohne Unterstützung. Sidras Entwicklung liest sich ungemein faszinierend und in jeder Zeile glaubwürdig.
Noch beschwerlicher ist Janes Weg, begleitet von der KI Eule. Es ist der Kampf eines zehnjährigen Mädchens ums nackte Überleben. Körperlich und seelisch geht Jane jeden Tag an ihre Grenzen, wehrt verwilderte Hunde ab, sucht sich Nahrung und Wasser, kämpft gegen die Einsamkeit. Ohne die KI hätte sie keine Chance, die Jahre auf dem Planeten zu überstehen. Und daraus ergibt sich im Finale eine heikle Aufgabe, die alle Figuren zusammen meistern.
»Zu ihrer eigenen Überraschung entfuhr ihr plötzlich ein Schluchzen. Oouoh richtete sich erschrocken auf. [..]„Scheiße, wir müssen dich ins Krankenhaus bringen, komm mit…“
Jane starrte ihn an. „Was? Wieso? Mir geht es gut.“
„Ähm, nein, Du…deine Augen laufen aus.“
Jane lachte, was gar nicht so einfach war, wenn man gerade weinen musste. „Nein, nein, nein, das“ – sie schniefte heftig – „sind nur Tränen. Das ist nicht schlimm.“ [..]
„Es ist normal. Wir Menschen tun das, wenn… wenn wir sehr viel fühlen.“
[…] Der Laru bewegte seinen Körper vor und zurück. „Na schön. Ist zwar verdammt gruselig, aber von mir aus.“ « [S.409]
Auf die Liebe, auf das Leben auf die Freiheit und den Tod
[zitiert aus „Alle Jläser huh“ – Kasalla, kölsch – deutsch übersetzt]
Wer von Science Fiction Romanen Action, Tempo und permanenten Nervenkitzel erwartet, sollte „Zwischen zwei Sternen“ lieber nicht lesen. Wer jedoch über die folgenden Fragen nachdenkt, wird begeistert sein: Was macht die Persönlichkeit eines Individuums aus? Wann ist eine KI eine Lebensform, der entsprechende Rechte zugesprochen werden sollten? Wie überwinden wir die Grenzen unseres kulturellen Tellerrands und was bringt uns das? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Roman, ohne gekünstelte Strukturen zu erschaffen. Sondern mit Hilfe zweier Lebensgeschichten, die sich ganz natürlich in Chambers bunte, multikulturelle Zukunftswelt einfügen. Zwei Parabeln, die trotz des futuristischen Settings gar nicht so weit von unserer Lebenswelt entfernt sind. Diversität ist für Becky Chambers kein Thema, das sie in ihren Geschichten berücksichtigt. Sondern eines, das als essentieller Bestandteil in ihren Geschichten lebt und sie besonders macht.
„Zwischen zwei Welten“ wird oft als Utopie oder positive Space Opera beschrieben und das trifft es. Trotzdem ist es keine schöne, heile Welt, die uns Becky Chambers vorstellt. Sondern eine, die düstere, menschenverachtende Seiten zeigt. Die Geschichte von Sidra und Jane steckt voller Liebe, Toleranz, Freundschaft und Freiheitsdrang. Also Konzepten und Ideen, die Schattenseiten überwinden und zu dem führen, was wir Glück nennen. Die zitierte Liedzeile gibt für mich die Atmosphäre wieder, die die LeserIn zumindest ein Weilchen aus der Lektüre des Romans mit in den Alltag nimmt.
Eva Bergschneider
Wayfarer-Reihe, Band 2
Science-Fiction
Fischer Tor
Januar 2018
461
Funtastik-Faktor: 80
Liebe Eva,
eine gelungene Besprechung! Ich habe den ersten Wayfarer-Band geliebt. Band 2 pausiert bei mir aber seit einiger Zeit, weil er mich noch nicht so richtig für sich gewinnen konnte. Dein Artikel hat mir jetzt aber neue Lust auf die Geschichte gemacht. 🙂 Danke dafür!
Viele Grüße
Kathrin
Danke, liebe Kathrin! 🙂 Das Buch hat bei mir auch eine Weile herumgelegen, obwohl ich es eigentlich viel früher lesen wollte. Immerhin ist es unabhängig von Teil I und macht auch mit Abstand zum ersten Wayfarer Abenteuer viel Freude. Ich wünsche Dir so viel Spaß damit, wie ich hatte. Und ich schaue, dass ich den dritten Teil möglichst bald lese. Liebe Grüße, Eva