Ready Player One trifft Jason Bourne
Virtual Reality Games sind ein absolut cooler Zeitvertreib, aber auch ein äußerst komplexer. Wer hat jenseits der Studienjahre schon Zeit, sich Level für Level hochzuarbeiten, um endlich an den wirklich interessanten Abenteuern teilnehmen zu können? Wer sie bezahlen kann, engagiert dafür Sherpas, Führer, die einen unbedarften Spieler durch Spielewelten von MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) wie „Call to Wizardy“ führen.
Für John Chu, einem totalen Spiele-Nerd seit Kindertagen, ist sein Unternehmen Sherpas Inc. die Erfüllung eines Traums. Mit Zocken und Klugscheißen verdient er sein Geld. Allerdings versteht er seine Arbeit als Dienstleistung. Egal, wie blöd der Kunde sich anstellt, er soll seinen Spaß haben und zahlen. Doch manche Kunden erschweren John und seiner Crew das Tagewerk. Manche Mitarbeiterinnen ebenso.
Darla, eine extrem talentierte Gamerin, ist Johns Freundin und zugleich Mitglied der Crew. Doch vom Servicegedanken hält sie nicht viel, weswegen sie John bei einem öffentlichkeitswirksamen Projekt ausschließt. Darla ist sauer und schwört, die Sherpas Inc. zu zerstören.
Kurz darauf werden die Sherpas von Smith und Mr. Jones angeheuert. Letzterer möchte möglichst alles über MMORPGs lernen, um diese Erkenntnisse beruflich zu nutzen. Um welchen Job es sich dabei konkret handelt, behält er genauso für sich, wie seine Identität. Nach einem Weltraumkampf erhärtet sich der Verdacht, dass Mr. Jones Arbeit vielleicht mit dem Führen der Diktatur in Nord-Korea zu tun hat. Eine Hypothese, die für Johns Mutter sehr interessant ist, die ihrerseits einen Geheimdienst leitet.
»Geld spielt keine Rolle.« [S. 42]
Let’s play and spy
Matt Ruff hat mit „88 Namen“ einen Roman geschrieben, der klar auf MMORPG-Gamer der fortgeschrittenen Generation zugeschnitten, aber auch für Nicht-Gamer lesbar ist. Dieser durchaus anspruchsvolle Spagat ist ihm gut gelungen. Meine wenigen Vorkenntnisse im Bereich Gaming reichten überwiegend aus, um die Handlung zu verstehen. Denn die verwendeten Fachbegriffe erklären sich in der Regel aus dem Kontext. Und wenn nicht hilft das Glossar. Es ist stilsicher als „John Chus Call to Wizardy-Schnellstart-Guide“ angelegt und für sich genommen schon unterhaltsam zu lesen.
Und selbst ich, die ich bisher sicherlich nicht einmal eine zweistellige Anzahl von Computer-Spielen gespielt habe (und das vor etlichen Jahren), hatte Spaß daran, in „88 Namen“ ein wenig Spielehistorie zu erleben. Vom Textadventure aus den 80er Jahren bis zum ein paar Jahrzehnte in die Zukunft projizierten Virtual Reality Game im Stil von „World of Warcraft“ ist alles dabei. Inklusive zahlreicher Reminiszenzen an die Popkultur im Allgemeinen und der Gamer-Szene im Besonderen. Und das Generationen übergreifend.
Dazu lesen sich nicht nur die Spieleabenteuer, sondern vor allem die sozialen Gewohnheiten einer Gemeinschaft, die ihr Leben in einem virtuellen Umfeld verbringt, äußerst spannend. Gerade jetzt, wo wir Corona-bedingt viel mehr berufliche und private Zeit online verbringen. In John Chus Welt ist der Umgang mit erdachten Identitäten selbstverständlich, egal ob im Business, im freundschaftlichen und gar im intimen Miteinander. Neben den Gefahren, die die Anonymität der virtuellen Welt birgt, bringt sie Vorteile. Mehr Gleichstellung von und Toleranz gegenüber marginalisierten Personen gehören dazu. Wie Orlando in Tad Williams „Otherland“ ist in „88 Namen“ die querschnittsgelähmte Anja eine Heldin in der „Call to Wizardy“ Welt. Gängige Vorurteile gegenüber Asiaten weiß John, dessen Großeltern aus China in die USA einwanderten, im VR zu seinen Gunsten zu nutzen. Glaubwürdig und lebendig gestaltet Matt Ruff eine Lebenswelt, die sich ein Stück weit in den virtuellen Raum verlagert hat. Auf technische Erklärungen kann er verzichten, wir sind bereits nah genug dran, um sie uns vorstellen zu können.
Das Spieleabenteuer fetzt, dem Thriller geht die Luft aus
Der Thriller-Plot beginnt vielversprechend. Ein geheimnisvoller Kunde, der bald mit dem nordkoreanischen Diktator in Verbindung gebracht wird. Ein noch geheimnisvollerer Gegenspieler, der doppelt oder nichts bietet und John immer mehr unter Druck setzt. Und seine Mutter, eine international tätige Superagentin, die im Hintergrund an den Stellschrauben der Macht dreht. Dieser Ansatz verspricht Nervenkitzel im Format eines hochkarätigen Agententhrillers. Doch leider bleibt es beim Anschein, letztendlich reicht es doch nur für ein recht einfallsloses Bedrohungsszenario und eine fast banale Auflösung. Vielleicht hätte die Handlung die sehr viel originellere Spielewelt nicht verlassen sollen.
John Chu ist ein klarer Sympathieträger mit seinen philosophisch anmutenden Gedanken und dem satirischen Humor. Schwadronieren von Nerd-Wissen bis an die Schmerzgrenze ist zwar ein klischeehafter Zug des Protagonisten, rundet das Bild dieses Charakters jedoch ab. Über die weiteren Akteure erfahren wir eher wenig. Was ich einerseits schade fand, andererseits zur Handlungsumgebung passt.
Insgesamt liest sich „88 Namen“ trotz einiger Schwächen höchst vergnüglich und teilweise recht spannend. Der Roman ist nicht nur für Zocker empfehlenswert, ein wenig Begeisterung für Virtual Reality sollte man jedoch mitbringen.
Eva Bergschneider
Triggerwarnung: Gewalt, Sex im VR
Science Fiction
Fischer Tor
November 2020
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