Behemoth – T.S. Orgel

Was aus der Menschheit wird, wenn sie ins All aufbricht

Behemoth  - T.S. Orgel © Heyne
Behemoth © Heyne

Es gibt eine Erde B. Sie heißt Luytens Stern und drei Generationenschiffe sind mit den Resten der Menschheit dorthin unterwegs, nachdem die Erde unbewohnbar wurde. Die Raumschiffe stammen von der Erde, vom Mond und vom Mars, sind baugleich, beherbergen allerdings ganz unterschiedliche Gesellschaftssysteme.

Die Nation des Schiffs Zheng He nennt sich Drachennation. Die Menschen werden gentechnisch mit Tiergenen modifiziert, in vitro gezeugt und direkt nach der Geburt ihrer Bestimmung zugeführt. Protagonist Laohu ist ein Tiger, dazu geboren, erzogen und trainiert die Sicherheit auf dem Schiff aufrecht zu erhalten. Mit allen nötigen Mitteln.

Die Tereschkova, kurz „Tresch“ (wie „Trash“) genannt, stammt vom Mond. Sie beherbergt eine bunte Mischung an Völkern und wird vom Admiral geführt, der mit Hilfe der Marshalls eine Autokratie errichtete. Die Tresch hatte das Pech von einem Asteroiden getroffen zu werden. Und so halten einfache Mechaniker und Shuttle-Piloten wie Helen und Rangi das Schiff mehr schlecht als recht mittels Handwerk und Improvisation zusammen.

Die Venta Chitru steuert eine Rumpfmannschaft und die künstliche Intelligenz E.V.A. Meg Thali ist die Kapitänin dieses Schiffs, dass seine Bevölkerung für die neue Welt im Kryoschlaf befördert.

Vor 150 Jahren starteten sie und dreißig Jahre sind noch bis zum Ziel zurückzulegen. Als ein riesiges, außerirdisches Raumschiff auftaucht. Die drei Generationenschiffe hatten viele Jahre keinen Kontakt zueinander. Doch nun schmieden zwei eine Allianz, während eines im Alleingang die „Behemoth“, wie sie das Alienschiff nennen, entert. Das Zusammentreffen der Völker scheint vor allem eins zu offenbaren: Vor der eigenen Zerstörungskraft in den Weltraum geflohen, machen die menschlichen Nationen genau so weiter, wie sie auf der Erde aufgehört haben. Mit Heimtücke und Feindseligkeit. 

Trotz des komplexen Plots eine von den Figuren bestimmte Story

„Behemoth“ beschert uns vielleicht den komplexesten Plot, den T.S. Orgel je in einem Einzelband geschrieben haben. Einerseits geht es um das Leben und die gesellschaftlichen Strukturen auf der Zheng He und der Tereschkova. Auf der Zheng He etablierte sich eine Gesellschaft, die durchaus als eine mögliche Versions Chinas in der fernen Zukunft durchgeht. Es regiert der Drachenrat, ähnlich strukturiert wie das derzeitig in China regierende Zentralkomitee der Kommunistischen Partei. Der aktuell eingeführte „Social Scoring“ wurde hier zur Währung im Sinne eines Belohnungssytems erweitert. Berücksichtigt man, dass China mittels Crispr/Cas Technologie bereits Babys gentechnisch modifizierte und fügt man dem Zukunftsbild eine Renaissance der Bedeutung chinesischer Tierkreiszeichen hinzu, erscheint eine mittels Tiergenen optimierte Bevölkerung plausibel.

Nicht ganz so schlüssig konzipiert und detailliert beschrieben wird die Gesellschaft auf der „Tresch“. Hier agieren kleinere Gruppen mit unterschiedlichen Zielen, die „Gürtler“ Atmosphäre aus „The Expanse“ mit entsprechend reaktionärer Stimmung liegt in der Luft.

Andererseits lesen wir ein echtes Space-Abenteuer. Die Kernhandlung auf den Schiffen und auf der Behemoth rahmt eine spannende Rahmenhandlung ein. Sie erzählt, wie ein unbekanntes Raumschiff auf dem Mars entdeckt wird und welchen Bezug diese Ereignisse auf die Handlung 150 Jahre später haben.

Obwohl die Struktur der Geschichte recht vielschichtig ist, wird der Plot – wie eigentlich immer in den OrgelRomanen – hauptsächlich von den Charakteren getragen. Vor allem Protagonist Laohu überzeugt als interessante Persönlichkeit, weil er sich frühzeitig und glaubhaft von der ihm zugedachten, leicht klischeeverdächtigen Rolle des Tigers und Kämpfers löst. Mit so überraschenden, wie charakterstarken Entscheidungen. Die Protagonisten der Tresch, ein redseliger Maori-Pilot, eine kluge Schweißerin und eine Technikerin mit einem künstlichen Auge hätten noch etwas feiner differenziert werden dürfen. Ihr cleveres und mutiges Eingreifen bringt die Handlung jedoch voran und macht sie zu Sympathieträgern.

Stereotypen und Reminiszenzen

Tom und Stephan Orgel schreiben einen eher handfesten und humorvollen Stil. Für „Behemoth“ haben sie Begriffe und Slang-Ausdrücke ersonnen und den jeweiligen Nationen zugeordnet. In der Darstellung der Kultur der Drachennation und in der Sprache der Reparatur-Crew auf der Tresch ist eine gewisse Nähe zu Herkunft spezifischen Klischees nicht zu leugnen. Hier tragen die Autoren zum Teil ein wenig dick auf, was bedingungslose Hingabe zur Obrigkeit oder eben die mit Slang-Begriffen durchsetzte Sprache fast jeder Person in Hangar D angeht. Glücklicherweise durchbrechen sie diese Klischees auch wieder. Erfreulich schnell im Erzählstrang der Zheng He und zumindest teilweise unter den Leuten des Generationenschiffs vom Mond, der Tresch.

Was die Reminiszenzen angeht, finden sich eine Fülle von Sprüchen und Zitaten zu einer Reihe von Klassikern unter Filmen und Büchern aus dem Bereich der Phantastik. Da ist von Indiana Jones bis Théoden von Rohan für wirklich jeden Fan etwas dabei. Und was noch wichtiger ist: stets atmosphärisch passend in die Handlung integriert.

Bekannte Motive spannend inszeniert

„Behemoth“ erzählt die Art Science-Fiction, die durch Romane von James S. A. Corey (The Expanse) oder Selfpublishern wie Ivan Ertlov (Avatar-Serie) populär geworden ist: ein Mix aus Abenteuer-SciFi und Space Opera. Das Abenteuer startet mit der Entdeckung des gigantischen Alienraumschiffs und der Entsendung der Expeditions-Crews der drei Generationenschiffe. Zur Space Opera mit an Fantasy erinnernden Motiven entwickelt sich der Roman spätestens in den immer mysteriöser und gruseliger erscheinenden Szenen während der Verwandlung der „Behemoth“. Und mit den bizarren Geheimnissen um ein kleines Mädchen namens Shenmi

Das Beste kommt zum Schluss

Feiern möchte ich eine Szene, die mich in die „Erdsee“ hineinversetzte und die eine ähnliche Dramatik, Humanität und Herzenzwärme mitbringt. Um nicht zu spoilern kann ich Euch leider nicht mehr darüber verraten. Was ich Euch allerdings verraten kann ist, dass Tom und Stephan Orgel offenbar keine Ahnung davon hatten, dass sie hier eins der schönsten Motive aus den Le Guin Werken aufgegriffen haben, wenn auch in einem völlig anderen Kontext eingebettet. Mich hat dieses Ende jedenfalls gefreut, weil   – so viel darf vielleicht doch verraten werden – Hoffnung mitschwingt. Hoffnung darauf, dass die Menschheit doch noch zu Solidarität und Freundschaft fähig ist.

Insgesamt ist „Behemoth“ ein sehr spannungsreicher Roman mit tiefsinnigen und witzigen Dialogen, ideal dosierter Action, einem Hauch Grusel und viel Menschlichkeit.

Eva Bergschneider

Behemoth
T. S. Orgel
Science Fiction
Heyne
Mai 2021
576
Das Illustrat
80

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