Aus Verantwortung und Courage das Undenkbare tun
Der Cliffhänger am Ende von „Zerrissene Erde“, dem ersten Band der Trilogie „Die große Stille“, hätte krasser nicht sein können. Jemand, dem man die Rolle des Weltenretters zugedacht hatte, zerstört diese beinahe und ruft eine weitere Fünfzeit hervor. Doch Alabaster versteinert und stirbt. Es bleibt ihm nicht viel Zeit, Essun, die er immer noch Syen nennt, eine überlebenswichtige, unmögliche erscheinende Aufgabe zu übertragen.
»„Üble Erde. Wie habe ich Dich vermisst“ [S. 225]«
Essun ist noch immer auf der Suche nach ihrer Tochter Nassun, die ihr Ehemann Jija entführte. Durch die Ereignisse strandet sie in Castrima, der einzigen Gem, die Orogene toleriert. Hoa, der Steinesser und Tonkee begleiten sie und in den unterirdischen Katakomben trifft sie auch Alabaster wieder. Für Essun beginnt eine Zeit des Erlernens bisher ungeahnter Einflussmöglichkeiten auf die Obelisken. Schließlich wird Castrima angegriffen.
Jija bringt Nassun an einen Ort namens Mond. Dort soll sie, wie ihr Vater es nennt, von ihrer Krankheit geheilt werden. Der einstige Wächter Schaffa, der ihre Mutter ins Fulcrum brachte, leitet dort eine alternative Ausbildungsstätte für Orogene. Nassuns mächtige Kräfte geraten bisweilen außer Kontrolle, mit fatalen Folgen. Hier lernt sie auf eine harte, aber immerhin selbstbestimmte Art, ohne die Dogmen des Fulcrums, Orogenie zu steuern. Mit ihren unorthodoxen Techniken tut sie, was sie tun muss, um zu überleben.
Jenseits von Fantasy oder SF – ein Maßstab in der Phantastischen Literatur
Die „Die große Stille“ Trilogie hat mit jedem ihrer drei Bände den begehrten HUGO-Award abgeräumt, dessen Fokus auf Science-Fiction Literatur liegt. Die Zeitung „Die Welt“ schreibt: „N.K. Jemisin hat die High Fantasy quasi neu erfunden.“. Ich denke, N.K. Jemisin hat einen Meilenstein in der Phantastischen Literatur gesetzt. Man mag die Bücher als Postapokalypse, moderne Fantasy, Climate- oder Weird- Fiction bezeichnen, es ist eigentlich egal. Wichtig ist, dass sie das Genre weiterentwickeln und demonstrieren, dass Phantastische Literatur ganz und gar nicht das ist, wofür die meisten deutschen Literaturkritiker sie halten: literarisch minderwertige Lektüre für Eskapisten. Das Gegenteil ist der Fall, denn Phantastische Literatur wie diese ist innovativ, politisch und deshalb so faszinierend.
Wenn Euch das Thema Entwicklung der Phantastischen Literatur interessiert, empfehle ich das nächste PHANTAST Magazin im April. Es wird die deutschsprachige Phantastische Literatur beleuchten und einen Artikel zu dem Thema von mir enthalten.
Ihrem außergewöhnlichen Erzählstil bleibt die Autorin im zweiten Band „Brennender Fels“ treu. Essuns Geschichte erzählt sie weiterhin aus der „Du“ Perspektive, Nassuns Handlung in der dritten Person und in Zwischenspielen meldet sich Hoa als Ich-Erzähler zu Wort. Interessant ist, wie diese unterschiedlichen Erzählweisen unsere Wahrnehmung der Handlung beeinflussen. Während wir uns in Essuns Geschichte direkt angesprochen fühlen, folgen wir Nassuns Erlebnissen wie ein Wegbegleiter und erleben Hoa als Kommentator. Der Steinesser agiert eher selten, dafür an entscheidenden Wendepunkten. Im Nachhinein erklärt er das Geschehen auf seine ganz spezielle, eigenwillige Weise und ist somit die interessanteste Stimme im Trio der Erzähler.
Warten auf das Finale
Überwältigende Überraschungseffekte wie im ersten Teil zum Beispiel die Erkenntnis, dass drei Erzählstimmen einer Person gehören, fehlen hier. Stattdessen folgen die Leser*innen zwei Handlungssträngen mit unterschiedlichen Spannungsverläufen. Essun lebt zunächst in relativer Sicherheit in der Gem Castrima, erlebt endlich Freundschaften auf Augenhöhe und bemüht sich, von Alabaster möglichst viel über die Obelisken zu lernen. Nassun hingegen fechtet einen beständigen Kampf gegen die Angst und das Unverständnis ihres Vaters aus. In ihr spiegeln sich die Martyrien von jungen Menschen, die unter starren Gesellschaftsstrukturen leiden einfach weil sie nicht der Wunschvorstellung entsprechen. Eine traurige, mitunter erschreckende Geschichte, die aber auch den Mut vermittelt, gegen den Strom zu schwimmen. Nassun ist die Heldin des zweiten Bands der Trilogie und eine Figur, die sich enorm weiterentwickelt.
»Lobenswert, dass Hjarka beeindruckt und nicht beunruhigt wirkt, als du die Augen öffnest und dich ihr zuwendest. „Nett“, sagt sie. „Du kannst also jemanden vereisen, ohne alle um dich herum zu töten. Wenn jeder Rogga das tun könnte, hätten die Leute mit Roggas kein Problem“«
Auf einen weiteren Cliffhänger verzichtete N.K. Jemisin in „Brennender Fels“. Stattdessen gibt sie einen Ausblick auf den abschließenden Band „Steinerner Himmel“. Mutter und Tochter werden eine Schlüsselrolle in einer finalen Auseinandersetzung der Mächtigen des Kontinents Stille spielen. Werden die Frauen ihn retten? Oder vernichten?
Eva Bergschneider
Die große Stille, Band 2
Science-Fiction, Fantasy
Knaur Verlag
Februar 2020
430
Markus Weber (Guter Punkt)
Funtastik-Faktor: 85