Historische Dark-Fantasy vom Feinsten
Miss Corrisande Jarrencourt kommt im Frühjahr 1865 zur Ballsaison nach München, um einen wohlhabenden Ehemann zu finden. Mit Anstandsdame Eliza und Kammerzofe Marie-Jeannette logiert sie im Nymphenburger Hotel. Doch anstatt adeliger Herren findet ein finsteres Schattenwesen Gefallen an der jungen Dame, die pikante Geheimnisse hütet. Dadurch gerät sie mitten hinein in die Jagd nach einem Manuskript, das in den falschen Händen zur Zerstörung der menschlichen Zivilisation führen könnte.
Jenes Manuskript wurde in England gestohlen und tauchte in den Händen eines Herrn Müller in dem Münchener Hotel wieder auf. Drei Parteien, nicht alle gehören der menschlichen Art an, verüben einen Überfall. Der Agent stirbt, das Manuskript verschwindet erneut. Die Regierungen Bayerns und Englands schicken drei Soldaten, eine Operndiva und einen Meister der arkanen Künste aus, um den Dieb zu fangen und das Manuskript zu sichern.
Colonel Delacroix, Asko von Orven und Udolf von Görenczy, alle drei gestandene und kampferprobte Soldaten, will der Zugriff auf das Schattenwesen einfach nicht gelingen. Die Erkenntnis, dass die junge, zierliche Corrisande die Begierde des gejagten Wesens erweckt, bringt sie auf eine Idee. Zu dem Zeitpunkt wissen sie noch nicht, dass sie es außerdem mit falschen Magiern, einem Orden der Inquisition und der Liebe zu tun bekommen.
Ein Kammerspiel, das es in sich hat
„Das Obsidianherz“ war Ju Honischs erster Roman, den sie im Jahr 2000 zu schreiben begann. Ursprünglich schrieb sie ihn in Englisch und übersetzte ihn selbst ins Deutsche. Im Jahr 2008 veröffentlichte der leider nicht mehr existierende Phantastik-Verlag Feder & Schwert den Roman mit fast 800 Seiten Umfang. Es folgten mit „Salzträume“ und „Jenseits des Karussels“ weitere Romane, die in der Zeit des späten 19. Jahrhunderts spielen. Knaur brachte alle drei Bücher 2018 noch einmal als eBook heraus. Und Ende 2020 veröffentlichte die Autorin sie bei amazon in Englisch (eBook,Taschenbuch). Dort erhielten die Bücher den Serientitel „Steam Age Quest“. Die hier besprochene 700 Seiten starke Ausgabe „Das Obsidianherz“ stammt vom Wiesengrund Verlag aus der Edition Weltenschreiber, herausgegeben im März 2021.
Ein überbordender Weltenbau war für den Roman nicht vonnöten, denn die Geschichte spielt fast ausschließlich in dem Hotel. Welch exaktes wie stimmiges Bild dieser Zeit Ju Honisch auch ohne ständige Ortwechsel zeichnete, wird dennoch in jeder Zeile deutlich. Detailgetreu und mit leicht sarkastischem Unterton beschreibt sie den Zeitgeist dieser Epoche, besonders im Hinblick auf Normen und Moral. Einer der schönsten Aspekte dieses Romans ist, dass Figuren und Handlung die starren Grenzen dieser Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts hinter sich lassen. Ein weiterer Bonuspunkt ist ein Thema, das um die letzte Jahrtausendwende schon genau so wichtig war, wie heute. Aber längst nicht so präsent: Diversität. „Das Obsidianherz“ ist auch ein Roman über Toleranz, Selbstfindung und den Mut, anders zu sein. Vor allem aber ist die Geschichte auf jeder der vielen Seiten ultraspannend. Aus einem einfachen Plot entwickelt sich eine äußerst komplexe Verschwörung, in der Menschen, Fey und Sí um die Vorherrschaft kämpfen und dabei über Leichen gehen. Und schlimmeres.
Entwicklungspotenzial der Figuren im besten Sinne ausgereizt
»„Es tut mir leid“ sagte sie und sah in seine blassblauen Augen. „Aber ich bin nicht die Außenwand des Hotels hochgeklettert, um zuzusehen, wie die Welt endet, während sie speziesrelevante Moralvorstellungen diskutieren.“« [S. 549]
Selten ist mir eine Romanfigur begegnet, die sich so umfassend und dennoch glaubwürdig verändert, wie Corrisande Jarrencourt. Zu Beginn der Geschichte ist sie ein verwöhntes, wohlhabendes Mädchen aus gutem Hause auf der Suche nach einem Ehemann, der ihr ein sorgenfreies, bequemes Leben ermöglicht. Schon bald bekommt sowohl das makellose Bild ihrer familiären Herkunft als auch das ihrer vornehmen Attitüde immer mehr Risse. Was sie von der langweiligen Gesellschaftsdame zur unvermuteten Heldin werden lässt.
Der zweite Protagonist ist Colonel Delacroix, der einen ähnlich vielfältigen und wenig standesgemäßen Hintergrund mitbringt. Zwar verändert er sich nicht so gravierend wie Corrisande, sondern überrascht sie und die Leser:innen mit impulsiven Reaktionen, die ihn nicht gerade sympathisch erscheinen lassen. Vornehmlich ist er jedoch ein unerschrockenen Kämpfer und cleverer Stratege. Und offenbart schließlich den warmherzigen Gentleman.
Auch die Nebenfiguren zeichnet die Autorin zeitgemäß authentisch und lebendig. Asko von Orven sticht als typischer Vertreter dieser Epoche hervor. Seine beharrlichen Moralvorstellungen sorgen für Heiterkeit. Als Gegenentwurf überzeugt die Opernsängerin Cérise mit nonchalantem Selbstbewusstsein.
Besonders für die Fey und Sí gilt, dass Ju Honisch jegliche schwarz-weiß Kategorien ausspart und vielmehr Individuen beschreibt. Mit Graf Arpad greift ein Vampir ins Geschehen ein, der einerseits die typische Mischung aus Attraktivität und Gefährlichkeit mitbringt, andererseits aber auch überraschende, persönliche Akzente setzt.
Engagiert und meisterhaft erzählt
»Die Reichen, die Berühmten und die, die es gerne wären, promenierten hier und zeigten sich und den neuesten Stil ihrer Garderobe einer kritisch beobachtenden Öffentlichkeit aus Reichen, Berühmten und solchen, die es gerne wären.« [S. 17]
Wie immer erzählt Ju Honisch ganz nah an den Gedanken und Gefühlen der Protagonisten. Ähnlich wie in George R. R. Martins „Eis und Feuer“ Zyklus erleben wir das Geschehen aus der Perspektive verschiedener Erzähler, wie zum Beispiel Corrisande, Delacroix, von Orven oder Gesellschafterin Eliza. Zuweilen eine Szene mehrfach. Jeder und jedem verleiht die Autorin eine originäre Stimme, die uns tief in die Gefühle der Figuren eintauchen lässt. Diese Welt durch derart verschiedene Augen zu betrachten, offenbart verschiedene Facetten eines Sittengemäldes dieser Zeit.
Der Schreibstil der Autorin ist zugleich dem Handlungszeitraum angepasst und dennoch modern und flüssig zu lesen. Schon deswegen, weil vor allem in den Dialogen trockener Humor und Wortwitz aufblitzt, der immer wieder Spaß macht und dem überwiegend ernsten Stoff die Schwere nimmt. Ju Honisch Romane erreichen in der Regel ‚epische‘ Ausmaße. In „Das Obsidianherz“ wäre die ein oder andere Szene mit einer Erzählperspektive weniger ausgekommen. Andererseits rahmen detailreiche Hintergrundinformationen und exakt ausgearbeitete Lebensgeschichten der Protagonisten den dramatischen Plot perfekt ein.
Fazit
Dieser Roman ist ein Paradebeispiel dafür, dass es keiner spektakulären Queste oder eines erschöpfenden Weltenbaus bedarf, um komplexe und zugleich unterhaltsame Abenteuer zu erzählen. Hier gelingt es durch eine intelligente und einfallsreiche Mischung aus Dark-Fantasy Thriller und Historienroman. Eine kitschfreie und trotzdem romantische Lovestory rundet das im doppelten Wortsinn fantastische Leseerlebnis ab.
Eva Bergschneider
Stone Age Quest, Band 1 (englischsprachige Ausgabe)
Fantasy (Dark)
Wiesengrund Verlag
März 2021
700
Sarah Skitschak
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