Die Chroniken von Azuhr–Der Verfluchte – Bernhard Hennen

Der Sog der Wörter

Die Chroniken von Azur-Der Verfluchte - Bernhard Hennen © Fischer Tor
Die Chroniken von Azur-Der Verfluchte © Fischer Tor

Erzpriester Lucio Tormeno beschert seinen Nachkommen ein grausiges Erbe. Um das Land vor der Pest zu retten, lässt er eine Stadt abriegeln und samt ihrer Bewohner in Flammen aufgehen. 53 Jahre später übt sein Sohn Nandus das Amt des Erzpriesters in der Nachbarstadt Dahlia gnadenlos aus. Dessen stolze Hoffnungen liegen auf seinem jüngsten Sohn Milan, der ihm im Amt folgen soll. Er erzieht ihn mit Schlägen und Demütigungen. Der 15jährige Milan fällt der verfeindeten Schwertherzogin in die Arme. Sie will ihn auf ihre Seite ziehen. Die Kurtisane Nok ist die Spionin des fernen Kaiserreiches Khanat und erkennt in ihm eine Alte Seele. Wer wird den Kampf um den verwegenen, unschuldig-charmanten Milan gewinnen? Er selbst hat unwissentlich eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die die ganze Welt verändern werden.

Es gibt Bücher, die erzählen eine mehr oder weniger gute Geschichte. Und es gibt Bücher, da macht es nach wenigen Absätzen „Plopp“ und der Leser verschwindet aus der realen Welt. Moment, was ist die reale Welt? Im Büro am Schreibtisch sitzen, den Haushalt machen, sich um die Kinder kümmern? Nein, die reale Welt ist, wenn Gestalten der Mären in dunklen Ecken lauern, wenn sie vom erzählten Schreckgespenst zur wahren Gefahr werden, wenn ein nicht existierender Seemann tot im Hafenbecken treibt. Du hast eine Gabe, wie nutzt Du sie? Rettest Du in kindlichem Übereifer die Welt oder machst Du sie Dir untertan? Was ist Lüge, was Moral?

„Die Moral ist ein wandelbares Flittchen.“ [S. 112]

Das bringt der Erzpriester Nandus Tormeno seinen Söhnen bei, und Bernhard Hennen begleitet dessen jüngsten Sohn Milan auf den grausamen Wegen im Versuch, das Richtige zu tun und sich zu entscheiden. Leidenschaft, Liebe, Glück – wer Hennens Bücher kennt, weiß, wie gemein und niederträchtig er sein kann, sodass sogar in sozialen Netzwerken Leser um Trost bitten und vor lauter Ergriffenheit nicht mehr weiter lesen mögen. Pech: Einmal im Sog spucken Dich „Die Chroniken von Azuhr“ erst wieder aus, wenn Dir klar ist, dass Du das allerletzte Wort gelesen hast. Wie bei den über 20.000 Seiten der Elfen-Saga werden Dich Bilder, Figuren und Episoden aus diesem Roman verfolgen und Du wirst die Feinheiten erst beim zweiten oder dritten Male mitbekommen. Staunen durch den gesamten Roman hinweg. Die Welt Azuhr fängt scheinbar normal an, als könnte sie ein Abbild unseres europäischen Mittelalters ein. Schritt für Schritt entwickelt sich die menschengemachte Magie.

Phantastik oder große Literatur?

In einer Rezension vor zehn Jahren habe ich Bernhard Hennen den „Meister der Wörter“ genannt. Jetzt empfinde ich seinen Stil knackiger, forscher, zielgerichteter. Als wäre der Autor jünger geworden. Oder will er uns in kürzerer Zeit mehr mitgeben? Es könnte sein, dass die Zusammenarbeit mit Robert Corvus in der preisgekrönten Phileasson-Saga seine literarische und stilistische Abenteuerlust befördert. Nicht stehen bleiben, immer weiter gehen.

Seine große Kunst besteht darin, die Vielschichtigkeit seiner Figuren auszuleuchten, ihre Zerrissenheit zu spiegeln. Hennen zieht den Leser auf die eine Seite und wenige Absätze weiter auf die andere. Dieses Hin und Her in seiner Intensität lässt unsere Herzen schneller klopfen und diesen Roman zugleich lieben und verteufeln.

„Aber wäre es nicht eine bessere Welt, wenn jeder zu seinem Wort stünde und Ehre das Maß unserer Taten wäre?“ [S. 375]

Die Story schreitet zügig voran. Hennens Romane – gleichermaßen „Der Verfluchte“ – beleuchten bei allen Abenteuern immer die philosophischen Grundfragen des menschlichen Seins. Verschiedene Gesellschaften und Staaten kämpfen um einen Status quo zu ihren Gunsten mit Lug und Trug, ernst gemeinten Versprechen und doch immer von den äußeren Umständen beherrscht, die deren Erfüllung behindern oder befördern. Hennen berührt die tieferen Regionen unserer Seele. Große Literatur innerhalb der Phantastik.

Dem wird die Ausgabe in blauem Leineneinband mit Lesebändchen und geprägten goldenen Lettern gerecht und dankbar von jedem Bibliophilen in die Hand genommen. Selbst das Taschenbuch sticht mit seinem azurblauen Schnitt aus allen anderen heraus.

Amandara M. Schulzke

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Der Verfluchte
Die Chroniken von Azuhr
Bernhard Hennen
Fantasy
Fischer Tor
Dezember 2017
576

Funtastik-Faktor: 98

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