Weltenentwürfe und Abenteuer nach der Apokalypse
„All you need is faith and trust… and a little bit of pixie dust!“
[Tinkerbell aus „Peter Pan“]
„Nimmerland“ erzählt die Abenteuer der neunzehn jährigen Wendy, die sich auf die Suche nach ihrem zehnjährigen Bruder Yori und dessen Freund macht. Wendys Familie lebt in der nördlichen Einöde in der Schluchtsiedlung. Man schreibt das Jahr 2303, einhundertfünfzig Jahre nach der Apokalypse, und das Leben ist äußerst gefährlich. „Sei niemals von oben sichtbar.“ ist die oberste Regel der Menschen, die unter den Felsvorsprüngen Zuflucht fanden und diese nicht verlassen. Doch Wendy las die Peter Pan Abenteuer und hört dessen Stimme in ihrem Kopf. Sie teilt seinen Wunsch nach Freiheit, sie möchte fliegen. Zu dritt wagen sie einen Ausflug auf das Felsplateau und fühlen sich dem Himmel nah. Den beiden Jungs wird dieser Ausflug zum Verhängnis, denn sie werden von Männern verschleppt. Wendy muss sie zurückholen und wagt sich in die Einöde – nach Nimmerland. Sie begegnet auf ihrer Suche monströsen Riesenechsen und wahnsinnigen Despoten. Aber auch freundlichen Überlebenskünstlern und einer Drohne namens Glöckchen. Hat sie mit ihrer Hilfe eine Chance, Yori und Pit zu befreien?
„Wir bauen uns eine Stadt mit einem Turm, der bis an den Himmel reicht.“
[Altes Testament: Buch Mose: 1, Kapitel 11, Vers 4]
„Remedium“ spielt in der Stadt Babel, die aus zwei Stadtteilen besteht: Prachtbabel und Braunbabel. Während in Prachtbabel reiche Menschen in materiellem Überfluss ihrem dekadenten Lebensstil frönen, kämpfen in Braunbabel die Armen um ihre Existenz. Nele und Gazael fanden wertvolle Steine in der Einöde und glaubten, das Eintrittsgeld nach Prachtbabel in Händen zu halten. Doch sie landeten im ärmsten Viertel Braunbabels, wo Gazael und der kleine Sohn Hemrar tödlich verunglücken. Seitdem schlägt sich Nele allein durch, in ständiger Angst vor der Inquisition. Schließlich entdeckt sie Anzeichen des Verfalls an sich. Diese Krankheit führt zur sofortigen Deportation in die Arena Prachtbabels, wo die Infizierten vor Publikum hingerichtet werden. Ihr einzige Chance ist der Händler Palef, der versprach, sie zum Raumhafen zu schleusen.
In Prachtbabel kämpft der reiche Lukures gegen die innere Leere. Rauschmittel, Edelhuren, Arenakämpfe – keine dieser Vergnügungen bereitet ihm noch Freude. Arelia verspricht ihm Heilung und führt ihn in den Venomida-Kult ein. Die Begegnung mit der Göttin verschafft die gewünschte Ektase. Doch zuhause verfällt der Superiat wieder den alten Lastern und die innere Kälte kommt zurück. Nur ein Wiedersehen mit einer Frau wie Venomida kann ihn erlösen.
In der Kürze liegt die Würze
„Nimmerland“ und „Remedium“ rechnet man mit ihrem Umfang von 154 Seiten zu den Novellen, ein Mittelding zwischen Kurzgeschichte und Roman. So verbindet die Novelle die Qualitäten beider Literaturformate. Die Erzählung spannt einerseits einen straffen Erzählbogen, ohne Redundanzen und Abschweifungen. Andererseits besteht genug Raum für eine vielschichtige Entwicklung der Protagonisten. Und genau das finden wir in „Die Erben Abbadons“: kurz und knackig erzählte Geschichten in einem inspirierenden Umfeld und mit interessanten Charakteren.
Die erste Novelle „Nimmerland“ liest sich zu Beginn wie ein Jugendbuch. Das Thema Erwachsenwerden ist zunächst sehr präsent und die Anlehnung an die Peter Pan Geschichte verstärkt diesen Eindruck. Wendy ist als Protagonistin und Identifikationsfigur angelegt. Sehr glaubwürdig verwandelt sie Naivität und Angst mittels innerer Monologe in Stärke und Entschlossenheit. Die innere Stimme des Peter Pan bildet das Gegenstück zum inneren Zweifler, der mit der Stimme des Siedlungsältesten auf das Mädchen einwirkt.
Auf ihrer Suche nach den Jungs begegnen ihr weitere Wegbegleiter: neben der Drohne „Glöckchen“ der Waranjäger Gazael, der seltsame Zacharias und der Zeppelinkapitän Khan. Die Autor*innen bringen mit den Nebenfiguren die Handlung voran und spendieren auch ihnen interessante Charakterzüge. Was der Geschichte in „Nimmerland“ fehlt, ist ein übergreifender Spannungsbogen. Die Handlung wirkt eher wie ein Staffellauf zu Markierungen, die die Richtung des nächsten Wegabschnitts weisen. Doch der atmosphärische Stimmungswandel zum gruseligen Finale gleicht dieses Manko wieder aus.
Ein Bindeglied in einer völlig neuen Geschichte
„Remedium“ erzählt eine atmosphärisch herbere Geschichte als „Nimmerland“. Als verbindendes Element hat der Waranjäger Gazael einen kurzen Auftritt, sonst handelt es sich um eine vollkommen andere Geschichte. Statt in der Einöde spielt die Geschichte in Babel, einer Stadt mit zwei Gesichtern, das eine farblos und bitterarm, das andere bunt und unfassbar reich. Neles Situation in Braunbabel prägt Tristesse und Hoffnungslosigkeit, Lukures Leben in der dekadenten, moralresistenten Gesellschaft Prachtbabels wirkt beinahe noch deprimierender. Eine abwechselnde Erzählweise verleiht der Handlung Dynamik und baut einen wirkungsvollen Spannungsbogen auf. Das Ende führt die Handlungsstränge zusammen und überzeugt durch ein krasses Überraschungsmoment, wie man es aus guten Kurzgeschichten kennt. Der Weg dorthin ist allerdings nicht immer logisch nachvollziehbar. Sowohl in Neles als auch in Lukures Geschichte finden sich Abläufe, die nicht schlüssig erscheinen und Fragen aufwerfen.
Etwas Hintergrund wäre interessant
Wie schon erwähnt, ist das Format der Novelle eine der Stärken der „Die Erben Abbadons“ Geschichten. Eine weitere Stärke ist die Vielfalt der dystopischen Schauplätze. Die Einöde in „Nimmerland“ wird als wüstenartiges, nahezu entvölkertes Areal beschrieben, in dem sich mit den Ruinen der Androiden-Servicestation und der Takashi-Corporation Reste der alten Zivilisation befinden. Der Schauplatz Babel in „Remedium“ ist in jeder Hinsicht gegensätzlich: überbevölkert, zweigeteilt und an das alte Rom erinnernd mit seiner gegensätzlichen sozialen und gesellschaftlichen Struktur. Auf der sehr schönen und aufschlussreichen Karte, die dem „Nimmerland“ Band beigelegt ist, ist die Lage der Schauplätze abgebildet. Hier drängt sich die Frage auf, wie sich so unterschiedliche Strukturen entwickeln konnten. Über die Apokalypse erfahren wir lediglich in der Erklärung zum Titel, dass es sich um Ressourcenkriege und eine globale Pandemie handelte. Welch trefflicher Spiegel unserer gegenwärtigen Situation. Ein wenig mehr Hintergrund dazu und zu der Entwicklung des Lebensraums, in dem „Die Erben Abbadons“ überlebten, würde dieser Reihe einen stimmigen Erzählrahmen verleihen. Ein paar Details, die sich innerhalb der Serie zu einem Gesamtbild ergänzen, würden schon ausreichen. Die Seitenzahl der Bände müsste dafür nicht erhöht werden.
Ein Sammelbecken für dystopische Szenarien aller Art
Für Fans von Dystopien und post-apokalyptischen Geschichten ist Novellen-Serie „Die Erben Abbadons“ ein Must Read. Sicherlich erfinden die Autor*innen das Genre nicht neu. Vielmehr spielen sie mit äußerst unterschiedlichen und faszinierenden Bildern, Stimmungen, Schicksalen und Entwicklungen dieses „Was wäre, wenn“ Szenarios. Das Ergebnis sind inspirierende Geschichten, die nicht nur spannende Unterhaltung bieten, sondern zu Gedankenexperimenten anregen. Sprachstil und Erzählqualität überzeugen ebenfalls und der Text wirkt wie aus einem Guss. Auf den Punkt formulierte Dialoge und bildhafte Beschreibungen lassen den Leser ins Geschehen eintauchen. Ein Coverbild des dritten Bands „Skotophobia“ ist auf der letzten Seite von „Remedium“ zu sehen und es geht anscheinend unter die Erde. Dmitri Glukhovskys „Metro“ lässt grüßen.
Eva Bergschneider
Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt, Gewalt an Kindern, Hinrichtung
Die Erben Abbadons, Band 1 und 2
Science-Fiction, Dystopie
Torsten Low
Juni und Dezember 2019
je 154
Christian Günther
Funtastik-Faktor: "Nimmerland" 80, "Remedium" 75