Die Optimierer – Theresa Hannig

Die optimierte Welt hält Abgründe bereit

Die Optimierer - Theresa Hannig © Bastei Lübbe
Die Optimierer © Bastei Lübbe

Samson Freitag ist ein unbescholtener und erfolgreicher Bürger der Bundesrepublik Europa, die die Mauern hochgezogen hat und sich eines streng kontrollierten Wohlstandes erfreut. Genannt wird das neue Wirtschaftssystem die Optimalwohlökonomie.

Die Optimalwohlökonomie bedeutet, dass ein Informationssystem existiert, mit dem jeder Bürger mit Hilfe einer Kontaktlinse an jede Information gelangt. Sie bedeutet, dass Roboter den Bürgern ungeliebte Arbeiten abnehmen und niemand für seinen Unterhalt arbeiten muss. Jedoch soll jeder Bürger in seinem optimalen Beruf der Gesellschaft von größtmöglichem Nutzen sein. Jeder an seinem Platz. Sie bedeutet, dass die Umwelt kompromisslos geschützt wird, der Individualverkehr ist weitestgehend abgeschafft. Sie bedeutet aber auch das Ende der freien Entscheidungen. Berufswahl, Partnerwahl, Lebensstil. Das System weiß alles über Dich und bestimmt, wer Du bist. Solange Du ein systemkonformes Leben führst, fleißig mit Wohltaten und Korrekturhinweisen Sozialpunkte sammelst, geht es Dir gut.

Vom Vorzeigebürger zum Außenseiter und Kriminellen

Samson Freitag ist Lebensberater, er verweist die Menschen auf ihren Platz. Hat er eine Entscheidung gefällt, bleibt dem Kunden keine Wahl. Wird kein Platz für sie oder ihn gefunden, bleibt die Kontemplation: Der Erhalt eines Grundeinkommens für das verordnete Nichtstun. Samson selbst wäre gern Politiker geworden, doch sein Platz ist der des Lebensberaters. Er ist mit seinem Leben zufrieden. Seine Freundin Melanie und er ergänzen sich perfekt. Sein Sozialpunktekonto hat fast die 1000er Marke erreicht, wofür eine Beförderung winkt. Lediglich seine Augenlinse bereitet ihm Schmerzen und seine Eltern weigern sich, das System so zu bewerten, wie er es tut. Als optimale Gesellschaftsform, deren kleine Fehler die Korrekturvermerke der Bürger ausmerzen. Doch die kleinen Fehler häufen sich in Samsons Leben und das System wendet sich brutal gegen ihn.

Wir sind schon fast soweit

Für ihren Debut-Roman „Die Optimierer“ erhielt Theresa Hannig gleich zwei Preise: den Stefan Lübbe Preis des gleichnamigen Verlags und den SERAPH in der Kategorie für das Beste Debut. Dabei gibt es bereits einige Science Fiction-Romane, die sich mit den Themen Totalüberwachung und dem Verlust der Freiheit zugunsten einer vermeintlich perfekten Gesellschaft beschäftigen. Die populärsten Romane dieser Art sind „1984“ von George Orwell und „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley. Den Geist dieser Klassiker atmet auch „Die Optimierer“. Die Atmosphäre in Theresa Hannigs Roman erinnert zunächst eher an „Schöne neue Welt“, denn jeder Mensch ist zufrieden und an seinem Platz. Doch dann reihen sich Samsons kleine Katastrophen wie fallende Dominosteine aneinander: die unverträglichen Kontaktlinsen, der verbotene Gänsebraten bei den Eltern, das Ende seiner Beziehung zu Melanie und schließlich berufliche Debakel. Der Überwachungsstaat schubst den einzigen Vorzeigebürger in einen Strudel des gesellschaftlichen Abgrunds.

„Die Optimierer“ ist ein Science-Fiction Roman, der 33 Jahre in der Zukunft spielt. Eines seiner bestechendsten Merkmale ist jedoch seine Realitätsnähe zum aktuellen Zeitgeschehen. Die Optimalwohlökonomie führt Maßnahmen ein, die viele von uns durchaus begrüßen würden. Wie einen reibungslosen öffentlichen Verkehr oder die verordnete Abkehr vom Fleischkonsum. Andere Regelungen wie das Sozialpunktesystem, das China 2020 etabliert, hat Theresa Hannig nur ein wenig weitergedacht. Anstatt Tinder gibt es die Doppelherz-Einrichtungen für zwanglosen Sex oder die Partnersuche. Wie stark der einzelne Bürger überwacht wird, fällt diesem erst auf, wenn das System ihn fallen lässt. Samson Freitags Fall und die zuerst zögerliche, dann vehemente Gegenwehr wirken erschreckend glaubwürdig.

Die Charakterisierung des Protagonisten fügt sich perfekt in die der Zwiespältigkeit seiner Welt ein. Seine beständigen Korrekturvermerke und das Denunzieren nerven. So weit, dass er selbst seine Eltern verpfeift, geht er dann aber doch nicht. Seine Partnerin Melanie bekocht er gern, nennenswerte Empathie bringt er für sie jedoch nicht auf. Und einem Fehler im System der Lebensberatung geht er hartnäckig nach und räumt eigene Fehler ein. Selbst als ein Kollege ihn vor möglichen Konsequenzen warnt. Samson wirkt abstoßend und bemitleidenswert zugleich, beweist aber durchaus auch Mut.

 Wer steckt hinter dem System?

Theresa Hannig beschreibt uns die Optimalwohlökonomie in allen Details, was zuweilen wie Infodumping wirkt. Aus Samsons Wandlung zum Systemgegner hätte Theresa Hannig viel mehr herausholen können, doch sie hat sich für ein gänzlich anderes Finale entschieden. Die Auflösung schlägt einen kompletten Richtungswechsel ein, der sich zwar andeutet, allerdings nicht wirklich aus der Geschichte entwickelt. Hier spart die Autorin an Informationen, die dem Ende mehr Plausibilität verliehen hätten. Der Nachfolgeroman „Die Unvollkommenen“, der im Juni 2019 erscheint, wird diese vielleicht liefern.

Insgesamt ist „Die Optimierer“ ein spannender und visionärer Roman, der vor allem durch seine Realitätsnähe verstörend wirkt. Theresa Hannig hat eine einfache, prägnante Sprache gewählt, die perfekt zum Inhalt passt. Ergänzend zur zeitkritischen Botschaft hat die Autorin ein Zitat von Edward Snowden vorangestellt:

„Zu behaupten, das Recht auf Privatsphäre sei einem egal, weil man nichts zu verbergen habt, ist wie zu behaupten, das Recht auf freie Meinungsäußerung sei einem egal, weil man nichts zu sagen hat.“ [Edward Snowden, 2015]

„Die Optimierer“ zeigt eindrucksvoll, wie nah unsere Gesellschaft der Totalüberwachung bereits ist und was wir durch sie verlieren werden. Nicht weniger, als unseren Individualismus und unseren freien Geist.

Eva Bergschneider

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Die Optimierer
Theresa hannig
Science-Fiction
Bastei Lübbe
September 2017
304

Funtastik-Faktor: 75

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