Florance Bell und die Melodie der Maschinen – Carsten Steenbergen

Irres Abenteuer in einer Rebellion gegen die Herrschaft einer Alternativwelt

Florance Bell und die Melodie der Maschinen - Carsten Steenbergen © Ueberreuter Verlag
Florance Bell und die Melodie der Maschinen © Ueberreuter Verlag

Wir schreiben das Jahr 1820 in einer Welt, in der Napoleon die Schlacht von Waterloo gewann. Anstatt nach St. Helena in den Südatlantik verbannt zu werden, herrscht der französische Kaiser wieder über Europa. England ist nun ein Protektorat Frankreichs.

Eine Katastrophe vereitelt ehrgeizige Pläne

Teenager Florance Bell lebt als Mündel und Assistentin des Meistermechanikers Monsieur Pignon auf Birch Manor, dem Landsitz des Earl Hellingway. Mit dem Earl leben dessen Tochter Victoria und Sohn Edward mit ihren Hausangestellten auf dem Gut. Earl Hellingway ist ein Technik-Fan und begeistert sich für die Errungenschaften, die die Dampfmaschine ermöglicht. Aus diesem Grund ist der Landsitz mit technischen Finessen wie Aufzügen und Dampfdroschken ausgestattet, für deren Funktionalität Monsieur Pignon und Florance verantwortlich sind.

Darüber hinaus ist der Earl ein ehrgeiziger Entwickler und bestens mit den wissenschaftlichen und politischen Größen des Protektorats vernetzt. Sein großes Ziel ist ein Symposium der Wissenschaft zu veranstalten, auf dem eine technische Neuerung vorgestellt wird, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat: ein Tyflopontikas, ein riesiger dampfbetriebener Maulwurf.

Doch auch Florance hat Erwartungen an das Symposium, denn ihr Mentor wird sie der Leiterin der Akademie Technologie d’avenir vorstellen. Vielleicht besteht doch die Chance einer Aufnahme. Obwohl sie ein englisches Mädchen ist, die dort nicht zum Studium zugelassen werden.

Schon am Morgen des großen Tages geht alles schief. Die Dampfmaschinen des Anwesens explodieren und unter anderen fallen sämtliche Abwehrmechanismen auf dem Landsitz aus. Das Symposium hat gerade begonnen, da stürmen Rebellen und französische Soldaten auf das Landgut. Der Earl wird unter Konspirationsverdacht festgenommen, die Rebellen stehlen das wertvolle Gerät. Zu dumm nur, dass Florance ihre Neugier nicht im Zaum halten konnte und sich das Tyflopontikas anschauen musste. Nun befindet sie sich auf dem Luftschiff der Diebe. Und Victoria und Edward auf der Flucht mit Mamsell Alison. Wer Freund und wer Feind ist, entpuppt sich als rätselhafter als zunächst angenommen.

Zwei Abenteuer, zwei Handlungsebenen und jede Menge Überraschungen

Carsten Steenbergen suchte sich mit dem frühen 19. Jahrhundert eine äußerst interessante Epoche der Geschichte aus. Europa ließ die von Kriegen geprägte Napoleonische Ära hinter sich und die Industrialisierung begann. In Florence Bells Welt jedoch vereinnahmte Napoleon das britische Reich. Der Adel arrangierte sich mit den neuen Machthabern und genießt weiterhin Privilegien, während sich im einfachen Volk eine Rebellion aus Royalisten bildet. Sie verfolgen das Ziel die Franzosen zu vertreiben und den gefangenen König Georg IV wieder auf den Thron zu setzen.

Die Geschichte beginnt mit der Explosion der Dampfkessel im Haushalt des Earls. Während der Hausherr um sein Symposium fürchtet, sorgt sich Tochter Victoria um die Gesundheit ihres Vaters und beklagt mangelnde Aufmerksamkeit. Sohn Edward hingegen nimmt jede Gelegenheit für Ausfahrten mit den Dampfdroschken wahr, die er anschließend ramponiert bei Florance zur Reparatur abliefert. Zu Beginn des Symposiums versucht der Haushalt noch den Schein zu wahren, bevor er zum Schauplatz des erbitterten Kampfs zwischen Franzosen und Rebellen wird.

Der Autor treibt den Plot zügig mit sich überschlagenden Ereignissen und Wendungen voran. Die Geschichte erzählt einerseits Florance‘ Abenteuer bei den Rebellen. Aus der gefangenen Spionin wird die neue Mechanikerin des Luftschiffs Ironside. Andererseits Victorias und Edwards Flucht von Birch Manor in den Norden. Schon diese wechselnden Perspektiven bringen Dynamik in die Geschichte. Trotz der Fülle an spannenden Ereignissen sind vor allem die Entwicklungen der Protagonist:innen und ihrer Beziehungen zueinander interessant. So werden aus Florance und dem Captain der Rebellen McGregor zuerst Menschen, die sich respektieren. Und schließlich Freunde und Verbündete, obwohl ihre politischen Ansichten nicht übereinstimmen. Die vielleicht bemerkenswerteste Persönlichkeitsentwicklung durchläuft Edward, vom schnöseligen Snob zu einem verantwortungsbewussten jungen Mann. Was auch Florance nicht verborgen bleibt. Selbst die hochnäsige Victoria entwickelt so etwas wie Schneid, ohne ihre Allüren abzulegen.

Ambivalenz in Bezug auf Feindbilder

In Florance und McGregors Beziehung zueinander spiegelt sich bereits, was diese Geschichte auszeichnet: das Fehlen ideologischer Vorgaben und ein steter Blick über den Tellerrand. Auf der einen Seite sind ein britischer Earl und sein französischer Mechaniker Anhänger Napoleons und arrangieren sich mit der französischen Herrschaft. Klar, der Earl genießt weiterhin Privilegien und Monsieur Pignon erfährt die Würdigung seines technisch versierten Dienstherren. Was ihm reicht. Das erklärt er auch seinem Mündel, als sie sich darüber wundert, dass er sich als Bediensteter behandeln lässt.

Captain Mc Gregor verfolgt hingegen das Ziel, die französische Herrschaft zu vertreiben und nimmt dafür auch den Tod von Mitstreitern und Unschuldigen in Kauf. Obwohl dies moralisch verwerflich ist, attestieren ihm sowohl Florance, als auch die Leser:in gute Gründe für sein Handeln. Denn er stammt aus dem einfachen Volk, das am meisten unter der Fremdherrschaft leidet. Diese wertfreie Betrachtung einer zwar fiktiven, aber aus der Historie vielfach bekannten Machtkonstellation aus verschiedenen Perspektiven gelingt dem Autor vorzüglich. Sie hat zwar wenig mit den tatsächlichen historischen, von Feindbildern geprägten Beziehungen zwischen Franzosen und Briten Anfang des 19 Jahrhundert gemein. Aber das muss sie glücklicherweise auch nicht.

Fazit

„Florance Bell und die Melodie der Maschinen“ erzählt eine spannende, steampunkige Abenteuergeschichte in einer interessanten Alternativwelt und mit ausgefeilt gezeichneten Charakteren. Es macht Spaß ihren wagemutigen und cleveren Aktionen in haarsträubenden Gefahren zu folgen und ihre interessanten, teils kontroversen Dialoge zu lesen. Sich in ihre jeweilige Situation hineinzuversetzen und nachzuspüren, was sie antreibt und wie sie sich entwickeln ist Dank der einfühlsamen Schreibe des Autors besonders eindrucksvoll. Als einziger Kritikpunkt wäre eine gewisse Vorhersehbarkeit zu nennen und bisweilen übertrieben heroische Aktionen, Meckern auf hohem Niveau. Der Roman wird für die Altersgruppe ab 12 Jahren empfohlen, was sicher passt. Jedoch weiß die Geschichte auch erwachsene Leser:innen zu begeistern.

Eva Bergschneider 

Florance Bell und die Melodie der Maschinen
Carsten Steenbergen
Steampunk
Ueberreuter Verlag
August 2021
Buch
384
Melanie Korte
85

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