Grenzwelten – Ursula K. Le Guin

Zwei weitere SF-Klassiker aus dem Hainish Universum in neuer Übersetzung

Grenzwelten - Urula K. Le Guin © Fischer Tor, dunkler Hintergrund eines Sternenhimmels, zwei Planeten, im Vordergrund Urwald, Farne. Schrift grün und weiss
Grenzwelten © Fischer Tor

Wieder einmal hat der Fischer-Tor Verlag eine Neuausgabe zweier Romane aus Ursula K. Le Guins „Hainish“-Zyklus veröffentlicht, in einer Sammelausgabe mit neuer Übersetzung von Karen Nölle. „Grenzwelten“ ist der Titel des Sammelbands und darin enthalten sind die Romane „Das Wort für Welt ist Wald“ und „Die Überlieferung“. Die ursprünglichen Erscheinungstermine der Romane – 1976 „The Word for World is Forest“ und 2000 „The Telling“ – deuten an, dass wir es mit sehr unterschiedlichen Werken zu tun haben. 34 Jahre Lebenszeit und Erfahrungen liegen zwischen ihnen. Und doch eint sie thematisch ein roter Faden: es geht um die Einflussnahme auf kulturelle Identitäten.

Das Wort für Welt ist Wald

Dem ersten Roman „Das Wort für Welt ist Wald“ ist ein Vorwort von Ursula K. Le Guin vorangestellt, in dem sie einige interessante Hintergründe zu der Geschichte erläutert. Der Roman entstand bereits 1968 während eines Aufenthalts in London und im Licht des Vietnam-Kriegs, sowie Ursulas Engagement als Kriegsgegnerin. In London stand ihr die Protestbewegung nicht als ein Ventil der Entrüstung zur Verfügung und daher nutze sie das Schreiben dieses Romans als solches. In der Nachbetrachtung stellte die Autorin fest, dass moralisierende Aspekte hier vielleicht zu sehr zutage treten.

Auch an den Namen der Athscheaner [..] hatte er Gefallen gefunden, [..]ganz besonders [an] Athsche, denn es war das Wort für Wald und für die Welt. [..]. Das Wesentliche an ihrer Welt war nicht die Erde, sondern der Wald. [..] Der athscheanische [Mensch] war Zweig und Wurzel.

S. 98

Die Menschheit erobert den Waldplaneten Athsche, um den auf Terra aufgebrauchten Rohstoff Holz abzubauen. Auf dem Planeten leben kleingewachsene Menschen mit grünlichem Fell, von den Terranern abfällig „Krietschis“ genannt. Die Terraner behandeln die Athscheaner wie Leibeigene, nutzen sie als unbezahltes Dienstpersonal und als Arbeiter. Sklaverei ist eigentlich verboten, doch in den Köpfen der Erobernden findet keine statt. Denn sie betrachten die Waldmenschen als Tiere.

Mit Captain Davidson erschuf Ursula K. Le Guin den generischen Unmenschen, einen Charakter, den sie vielleicht einem Militärangehörigen aus dem Vietnamkrieg nachempfunden hat. Oder jemanden wie General Custer, wenn man die Geschichte als Analogie zur Vernichtung der indigenen Bevölkerung in Amerika liest. Davidson beutet den Planeten und die Waldmenschen auf gnadenlose und brutalste Weise aus. Bis sein Camp in seiner Abwesenheit überrannt und in Brand gesetzt wird. Und alle verbliebenen Terraner getötet werden. Den Anführer der Athscheaner kennt er nur zu gut – Selver. Davidson vergewaltigte dessen Ehefrau, woraufhin sie verstarb. Selvers verzweifelte Angriffe auf Davidson endeten darin, dass er schwer verstümmelt wurde. Davidson nennt Selver seither Narbenfresse.

Aus dem Hauptquartier kommen neue Befehle: alle Waldmenschen sollen freigelassen, die Sklaverei endgültig beendet werden. Davidson organisiert einen privaten Rachefeldzug in den Gebieten der Waldmenschen, auf den wiederum Angriffe der Athscheaner folgen. Der Anthropologe Lyubov, der zu Selver eine freundschaftliche Verbindung aufgebaut hatte, analysiert das Geschehen. Doch es sind Selver und das träumende Volk, die eine Lösung herbeiführen.

Die Überlieferung

„Klingt öde“ sagte Tong, noch immer durch Ordner klickend. „Nun ja, ich bin… ich glaube, mir fehlt für diese Ästhetik der Zugang. Sie ist so zutiefst und …und … und so platt politisch. Natürlich ist jede Kunst politisch. Aber wenn sie ganz und gar didaktisch ist, ganz und gar im Dienst eines Glaubenssystems steht, weckt das Abwehr in mir.“

S. 180

Mit „Die Überlieferung“ präsentiert uns das Buch eine weitaus komplexere Geschichte, die nicht nur in der realen Zeitlinie viel später entstand. Sondern auch in der Zeitlinie des Hainish-Universums später angesiedelt ist. Le Guins „Star Trek“ ähnlicher Verbund die „Liga der Welten“ heisst nun „Ekumen“. Reisen durch die Galaxie sind in Le Guins Science-Fiction lediglich nahe Lichtgeschwindigkeit möglich, weshalb es stets zur Zeitdilatation kommt. Während für den Reisenden eine kurze Zeitspanne vergeht, ereignen sich an Start und Ziel der Reise weitaus größere Zeiträume.

Erzählt wird die Geschichte der Terranerin Sati, die nach ihrem Studium an der Ekumen-Universität auf dem Planeten Aka eine Stelle als Observatorin antritt. Sati stammt aus Indien und aus einer Zeit, in der große Teile der Erde von den Unionisten regiert werden, einer fundamentalistisch-religiösen Gruppierung, die einen allgegenwärtigen Gott etabliert und andere Glaubensrichtungen unterdrückt. Sati, die aufgrund ihres hinduistischen Hintergrunds und ihrer Homosexualität Verfolgung fürchten musste und Freiheit suchte, verließ die Erde.

Auf Aka findet sie, über 70 Jahre nachdem sie die Erde verließ, ebenfalls ein repressives System vor: den Konzernstaat. Der Botschafter des Ekumen überträgt ihr die Aufgabe abseits der Hauptstadt Dovza nach Spuren der Geschichte Akas zu suchen, die die Regierung vielleicht noch nicht ausgemerzt hat. Im ländlichen Okzat-Ozkat wandelt Sati auf den Spuren des vergangenen Aka, stets beobachtet von einem Regierungsvertreter, dem Monitor. Trotzdem gelingt es ihr, nicht nur alte Schriftzüge zu finden, sondern auch an inzwischen verbotenen Meditationen teilzuhaben. Sie trifft die die Maz, Erzähler:innen, die mündlich alte Sagen und Geschichten weitergeben. Mit ihrer Hilfe taucht Sati tief in die Historie Akas ein und findet zu den Ursprüngen der Revolution.

Kritik an Kolonialismus und Militarismus und Plädoyer für die Anerkennung kultureller Identität

So stereotyp, wie Ursula K. Le Guin in „Das Wort für Welt ist Wald“ Captain Davidson zeichnete, so differenziert und originär charakterisierte sie das Volk der Athscheaner, die Waldmenschen. Im Vorwort erklärt die Autorin, dass sie einst den Psychologen Dr. Charles Tart traf. Der fragte sie, ob ein Volk aus Malaysia, die träumenden Senoi, den Athscheanern Pate stand. Möglicherweise finden wir hier aber auch das „Dreamwalking“ wieder, das zur Kultur der American Natives gehört.

Sehr eindrücklich beschrieb Le Guin wie die Athscheaner in einer Wach- und einer Traumwelt leben. Die Lenkung von Träumen und die Analyse ihrer Bedeutung wird erlernt und bestimmt ihr Leben. Sie sind ein friedliches und zutiefst dem Wald verbundenes Volk. Was erklärt, dass sie in dem Moment, wo ihnen der Wald, ihre Lebensgrundlage und ein Stück ihrer Identität, genommen wird, anfangen sich zu wehren.

„Das Wort für Welt ist Wald“ ist aufgrund der rohen Gewalt, die die Terraner den Waldmenschen antun, und ihrer unmenschlichen Arroganz als Kolonialherren nicht einfach zu lesen. Tröstlich wirkt, dass es mit Lyubov einen Protagonisten gibt, der die Kultur der Athscheaner studiert und anerkennt. Ergreifend ist die Szene seiner Begegnung mit Selver nach dem ersten Angriff, als klar wird, dass ihre Freundschaft der Vergangenheit angehört. „Das Wort für Welt ist Wald“ liest sich wie eine Anklage an Kolonialismus und Völkermord. Und löst vielerlei Emotionen aus: Abscheu, Wut, Resignation und Trauer.

Parabel über den Gottesstaat und die Kulturrevolution

„Die Überlieferung“ ist hingegen ein Roman, der sehr behutsam seine Geschichte und Wirkung entfaltet. Wir lesen zunächst über Satis Abschied von der Erde und springen anschließend in die Gegenwartshandlung auf Aka, in Dovza Stadt. Ihr Mentor Tong erklärt ihr ausführlich die gegenwärtige Situation auf Aka und philosophiert mit ihr über das Mysterium, wie diese Entwicklung begann. Zunächst ergeht es Sati in Okzat-Ozkat ähnlich. Ihre Suche gestaltet sich schwierig und ihr Handlungsspielraum ist begrenzt. Nach und nach recherchiert sie Fragmente aus der verschütteten Historie und der Mythologie dieser Welt. Als Leserin mag man in diesen Passagen einen Spannungsbogen vermissen, wird aber mit umso faszinierenderen Sagen und Geschichten entschädigt. Bis es schließlich zu einer dramatischen und logischen Auflösung kommt.

Ähnlich wie in „Freie Geister“ stellt Le Guin hier zwei politische Systeme gegenüber, die sie unserer Realität entnommen hat: der fundamentalistische Gottesstaat versus das kommunistische Einparteien-Regime Chinas. „Die Überlieferung“ wirkt deutlich moderner, präsentiert ein akribisch entwickeltes, vielschichtigeres Handlungsgerüst und eine homosexuelle Protagonistin. Anders als in „Das Wort für Welt ist Wald“ bewertet die Erzählerin das Geschehen deutlich zurückhaltender. Wodurch sich umso eindringlicher die Botschaft vermittelt, dass jegliche kulturelle Identität äußerst wertvoll, schützenswert und unantastbar ist.

Fazit

„Das Wort für Welt ist Wald“ und „Die Überlieferung“ zu lesen ist zugleich eine emotionale und intellektuelle Herausforderung, sowie eine faszinierende Zeitreise durch das Hainish-Universum und die Entwicklungsgeschichte der Schriftstellerin Ursula K. Le Guin. Auf einzigartige Weise spiegelt sie mit ihren Geschichten unsere Historie und Gegenwart, legt den Finger in Wunden und berührt uns mit ihrem Weltenbau und den Schicksalen ihrer Protagonist:innen.

Grenzwelten (Das Wort für Welt ist Wald und Die Überlieferung)
Ursula K. Le Guin, Übersetzung: Karen Nölle
Science Fiction
Fischer Tor
Januar 2022
Buch
400
Nele Schütz Design
85

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