Erfrischendes Debüt einer begabten Wahlberlinerin
Lucia -27 jahre jung- stolpert vollgepackt mit all ihrer Habe aus einem Zug ins regennasse Berlin. Sie folgt damit einem seit ihrer Kindheit wiederkehrenden Traum, in dem der Berliner Fernsehturm auftaucht. Im Hostel fällt sie in die Arme der irischen Weltenbummlerin Brigid, die sich als Hexe outet. Gemeinsam finden sie ein Zimmer in einer spirituellen WG und teilen sich einen Job in einem Neuköllner Café. Fast jede Nacht wacht Lucia von ihrem Albtraum geplagt schreiend auf. Die jungen Frauen beschließen, gemeinsam das Rätsel zu lösen. Dazu suchen sie schamanische Unterstützung und begegnen auf dem Weg faszinierenden Menschen und Wesen.
Zuallererst fällt auf, dass Julia Heller mit flotter Feder schreibt: knackige Dialoge, Beschreibungen voller Pep, Witz und Charisma in den Sätzen. Schnell werden so die Protagonisten des Romans lebendig und wachsen dem Leser ans Herz. Da sind Panait, der Trance-Maler, der in einer schweizer Hippiekommune aufwuchs, die Griechin Eris, Tochter von Schwarzmagiern, die lesbische Delía, der unheimlich wirkende Schamane Göndlir und Hoodopristerin Oyá, um die wichtigsten zu nennen. Der flotte Stil tröstet über ein paar inhaltliche Längen hinweg. Die Autorin packt die bunte Mischung Zugereister in einen Wirbelwind aus Ereignissen. Dazu tritt ein Böser auf den Plan, bei dem klarer werden könnte, warum er böse ist und was er angestellt hat, damit seine Ehefrau ihre Persönlichkeit aufgibt. Ein wenig mehr Horror hätte dem Buch an dieser Stelle gut getan.
Lucia entwickelt sich von der Unschuld vom Lande zu einer immer selbstbewussteren jungen Frau. Sie probiert Dinge aus, von denen sie eingetrichtert bekommen hatte, dass sie zutiefst unmoralisch und verwerflich seien. Alle Charaktere gehen genau wie Lucia reifer aus der Geschichte heraus.
Es ist alles verflochten
Dirk Gently (Douglas Adams) würde sagen: „Es ist alles verflochten.“ Das erzählt uns der Roman in vielen verschiedenen Facetten. Figuren aus unterschiedlichen Kulturen und mehreren Glaubensrichtungen finden sich in Berlin zusammen, um die Welt zu retten. Dass Lucias private Lebensgeschichte Teil einer weltumfassenden Heilung wird, kommt erst gegen Ende der Geschichte heraus. In den Anfang integriert, hätte ein Epos daraus werden können, das sicher nicht geplant war. Schade, dass Berlin selbst nur Kulisse bleibt und bis auf einen kleinen Teich im Stadtteil Köpenick völlig unmagisch scheint.
„Es gab zwar viele Esoteriker in Berlin, aber ein Großteil davon waren in ihren Augen einfach nur seltsame Spinner.“ S. 239
Alle Protagonisten kommen von weit her und sind, bis auf eine alte Dame, keine Berliner. Trotz aller Immigranten haben die Ur-Berliner ein einzigartiges Lebensgefühl bewahrt, das seit dem „Alten Fritz“ mit der Offenheit für Fremdes verbunden ist. Unter ihnen befinden sich durchaus ernst zu nehmende Neuheiden und Esoteriker anderer Couleur. Diese Tatsache hat sich der Autorin noch nicht erschlossen.
Magic Berlin ist ein Roman des Erwachsenwerdens und des Entdeckens der Welten hinter dem Spiegel. Wer sich bisher nicht mit Naturreligionen und spirituellen Praktiken beschäftigt hat, für den ist es ein Roman, der kleine Einführungen und Erläuterungen bereit hält. Alte Hasen können schmunzeln nach dem Motto: Ja, genau so oder ähnlich.
Julia Heller hat eine große Zukunft vor sich, wenn sie weiter schreibt und ein paar harmlose Kinderkrankheiten überwindet.
Amandara M. Schulzke
Fantasy
Books on Demand
Dezember 2017
Taschenbuch
356
Funtastik-Faktor: 70
Ich fand auch, dass Berlin in seiner Gesamtheit teilweise etwas kurz gekommen ist, in einem Roman, der sich doch ums magische Berlin dreht. Allerdings kann ich nicht nachvollziehen, wie man hier zu dem Schluss kommt, dass sich der Autorin die heidnische Szene Berlins nicht erschlossen hätte. Ich weiß, dass sie sich selbst in dieser Szene bewegt und die Charaktere des Buchs aus diesen Erfahrungen gewachsen sind. Berlin ist nun mal eine Stadt voller Zugezogener.
Das herausgepickte Zitat finde ich etwas unglücklich, denn Lucia, die zuvor noch nie etwas mit Magie zu tun gehabt hat, denkt ja nur zuerst so. Es sind die Gedanken, die vermutlich jeder hat, der erstmals mit Magiern, Hexen und Schamanen in Kontakt tritt – der Durchschnittsmensch schüttelt den Kopf und belächelt diese „Spinner“. Lucia lernt aber bald, dass die Magie real ist und ihre neuen Freunde alles andere als Spinner. Ich empfinde das als sehr liebevollen Blick auf die vielschichtige heidnische Szene Berlins.
Das Ende des Buches verrät, dass die Geschichte weitergeht – die Veränderung, die durch Lucia hervorgerufen wurde, hat ja erst begonnen -, auch wenn Lucias Geschichte erst einmal ein Ende gefunden hat. Ich kann hier ja mal verraten, dass die Autorin schon Weiteres geplant hat und auch „der Böse“ und Lucias Mutter, deren eigene Geschichten etwas vor Lucias Werdegang verblasst sind, bekommen nochmals eine Bühne. Ich freue mich schon darauf, all die liebevoll gezeichneten Heiden wiederzutreffen.