Nach der Revolution ist vor dem Technologie-Zeitalter
Mit „Mutter-Entität“ ist Christian Vogt in die Welt der „13 Gezeichneten“ zurückgekehrt. Fünfundzwanzig Jahre nach der Befreiung Sygnas von den Eroberern, blüht die Stadt auf. Handwerk, magische Zeichen und die Wissenschaft erleben eine Renaissance. In allerlei experimentellen Fachrichtungen wird geforscht, mancherlei Obskures ausprobiert.
Eine solche Technologie-Institution ist Telegraphia, sie etablierte eine Kommunikationsform über Lichtsignale. Doch nicht nur das. Zur Aufklärung eines kuriosen Diebstahls ließ der Justiziarix der Stadt Luciwa eine Instanz der Investigatorenklasse von Telegraphia kommen, ein cleverer Geist in einem spinnenartigen Metallkörper. Nummer 17 ist eine der Protagonistinnen dieser Novelle. Als investigatives Genie soll sie das Entwenden wertvoller und seltsamer Gegenstände aus dem Museum des Haus Narkesh aufklären. Trotzdem dass die Kommunikation zwischen Ayo und Nummer 17 nicht ganz reibungslos läuft, wird einer der Diebe schnell gefasst. Doch wer ist dessen Auftraggeber?
»„Warum so brüskiert?“
„Mir fehlt die programmatische Voraussetzung für diese Emotion“
Ich möchte wirklich gern einen anderen Menschen. Dieser hier zog eine Augenbraue hoch. Was immer das bedeutete. Die Wissenskanopen weisen noch deutliche Lücken im Bereich Gestik und Mimik auf.«[Pos. 183]
Doktorandin Kumari erforscht in Sygna die Quantifizierung von Zeichenmacht und nutzt dafür die neu erfundene photographische Bildgebung. Sie erarbeitete bereits, dass magische Zeichen umgebende Halos auf Photographien mit deren Wirksamkeit korrelierten. Doch diffuse Linien im Hintergrund der Zeichen geben ihr Rätsel auf. Sie scheinen alle in eine Richtung zu weisen: zum Bleiberg. Dem Ort der Verkehrten Stadt, in der sich vor 25 Jahren das Schicksal offenbarte. Gemeinsam decken Kumari und Nummer 17 eine düstere Verschwörung auf, die die Weltenordnung erneut zu zerstören droht.
Akteure mit Grips und Charisma gemeinsam unschlagbar
Nummer 17, im Nachwort weist Christian Vogt selbst darauf hin, ist eine schöne Hommage an die Hauptfigur aus „Tagebuch eines Killerbots“ von Martha Wells. Ähnlich wie in den preisgekrönten Novellen der US-Schriftstellerin berichtet Nummer 17 rückblickend als Ich-Erzähler. Dabei gehören die inneren Monologe, in denen sie sich mit der Welt der Menschen und ihrer Identität auseinandersetzt, zum Witzigsten was ich seit langer Zeit lesen durfte. Christian Vogt ist es vorzüglich gelungen, Nummer 17 mit menschlich anmutenden Eigenheiten wie Überheblichkeit auszustatten, und ihr zugleich den eigenwilligen, originären Charakter eines Maschinenwesens zu verleihen.
Ähnlich gut gelungen ist die Charakterisierung der Protagonistin Kumari. Als clevere, zielstrebige, mutige und in jeder Hinsicht schlagfertige Frau ist sie vielleicht einen Tick zu heroisch gezeichnet. Ein paar Ecken hätten ihr gestanden. Auch ihr folgt man gern durch spritzige und pointierte Dialoge mit ihrer Lebensgefährtin Li Zha und mitreißende Kampfszenen, die sich hinter keinem Action-Film zu verstecken brauchen.
Magie und hinreichend fortschrittliche Technologie in Harmonie
Im ersten Band der „Die 13 Gezeichneten“ Reihe gefiel mir der Story-Aufbau nicht so gut. Die Geschichte nahm einen extrem langen Anlauf und am Ende konzentrierten sich die Spannungshöhepunkte auf die letzten Kapitel. „Mutter-Entität“ geht direkt in medias res, legt ein hohes Tempo vor und ist wirklich von der ersten bis zur letzten Seite spannend. Dennoch schafft es der Autor erstaunlich viele Informationen darüber unterzubringen, wie sich Sygna inzwischen weiterentwickelte und wie sich dies auf die Gesellschaft auswirkt. Auch der Hintergrund der Akteure wird an den richtigen Stellen und in perfekt dosierter Detailtiefe vermittelt. Ab und zu hat mich Christian bei der Erläuterung der wissenschaftlichen Hintergründe abgehängt, obwohl sie klug durchdacht und plausibel sind. Mir erschloss sich nicht jedes Detail, was allerdings dem Lesespaß keinerlei Abbruch tat.
Insgesamt bietet „Mutter-Entität“ mit dem Mix aus Gunpowder-Fantasy mit einem Hauch von Cyberpunk eine interessante, spannende und vergnügliche Lektüre. Vom ersten Auftritt von Nummer 17 an bis zum überraschenden und runden Finale. Gern mehr davon.
Eva Bergschneider
Eine Novelle aus der Reihe "Die 13 Gezeichneten"
Fantasy
Ach je Verlag
Oktober 2020
eBook
65
Judith Vogt
88