Epische und düstere Fantasy um Schicksal, Identität und die Vielschichtigkeit des Seins
„Das Truglicht hat seine eigene Strömung und Deine Gedanken schließen sich ihm an – und du willst die Welt ausleuchten bis an ihren Grund, und das macht nichts, solange es noch etwas zu wissen gibt in dieser Welt [..]. Eine Antwort führt zu hundert neuen Fragen, und irgendwann schlägt Wissen-Wollen um in Zweifel. Zweifel an allem, was es gibt. Dann erkennst Du, dass die Welt das größte aller Rätsel ist.“ [S. 102]
Der Äonenschnitter zog vorbei. Anstatt der Dunkelheit hinterließ er den Sternenschatten und das Zwielicht kam über Juras Lurth. Das Weltengesetzt konnte die Grenze zu Licht oder Schatten nicht überwinden – ein toter Punkt. Doch die Sternenspieler warten auf das, was in der Welt der Sterblichen passiert.
Und das beginnt mit Lil-Laé aus dem Volk der Geflügelten, der Arkhalaéyi. Nachdem sie von der Sternenseherin ihren zweiten Namen Wie-Sonne-und-Sturm erhielt, macht sie sich auf den Weg, das Zwielicht zu ergründen. Die Irrlichtkarte, die sie aus dem Blatt der Frau hinter dem Schleier zog, führt sie zu dem Zauberer und Halb-Elden Lîskith von den Spiegeln. Sie befreit ihn aus der Sklaverei im Narrengold, einem Spielhaus und Bordell. Lil-Laé und Lîskith finden zueinander, trotz seiner Traumblumensucht, seines kalten Gesichts und dem Spiegelsplitter am Herzen. Bald erwartet Lil-Laé ein Kind von ihm und beide kehren nach Ilûvien zu ihrem Volk Lässt-Funken-blühen-in-der-Brandung zurück. Doch das Irrlicht findet die Insel der Arkhalaéyi. Um es wieder fortzulocken, trifft Lîskith eine harte Entscheidung.
Die Sternenseherin hat keinen zweiten Namen für Jeónathar, dem Sohn von Lil-Laé und Lîskith. Und so macht auch er sich auf die Suche: nach seinem Sternepaten und seinem Vater. Sein schwarzes Gesicht offenbart ihm die Abgründe jenseits des Zwielichts und Lîskiths spiegelndes Pendel führt ihn mitten hinein. Wendet sich das Blatt, als Jeó seiner Hüterin, der Elde Theófanú, begegnet?
Klassisch und modern zugleich
An Komplexität kann es die Welt in „Nirgendland“ locker mit Tolkiens Mittelerde aufnehmen, an Exotik übertrifft sie diese bei weitem. Fräulein SpiegeL baute für den Roman ein kunstvolles Konstrukt aus Diesseits, Jenseits und Zwischenwelt und siedelt die Abenteuer ihrer Protagonisten in jeder dieser Sphären an. Dabei orientierte sie sich nicht, wie die meisten Fantasy-Autoren, an bekannten Settings, wie das Mittelalter oder eben Tolkiens Welt. Sondern kreierte etwas völlig Eigenständiges und Originäres. Aus diesem Grund mag selbst geübten Fantasy-Lesern der Einstieg in das Buch ein wenig schwerer fallen, als gewöhnlich. Belohnt werden sie jedoch mit einem absolut ungewöhnlichen Weltenbau und einer besonderen und geheimnisvollen Historie.
Vertraut erscheint der Aufbau der Geschichte, denn es handelt sich um die klassische Quest. Ähnlich wie auf Frodo und Sams Fahrt treffen Lil-Laé und Jeónathar auf viele düstere, aber auch auf schöne Orte, zwielichtige Gestalten und freundliche Wegbegleiter. Als roter Faden ziehen sich Spiegelscherben und Irrlichter durch die Quests. Wie das Spiegeluniversum in „Star Trek“ oder Galadriels Spiegel im „Der Herr der Ringe“, reflektieren sie lichte und dunkle Facetten der Realität zu alternativen Formen. Während die Irrlichter wie die Kerzen in den Totensümpfen den Weg zum Ziel weisen, aber auch ins Verderben führen. Darin, die Bilder richtig zu deuten und den Weg zur Rettung der Welt zu finden, besteht die Herausforderung an die Protagonisten.
Ist Blut dicker als das Zwielicht und die dunklen Mächte?
Erzählt wird die Geschichte personal aus der Sicht Lîskiths, Lil-Laés und Jeónathars. Bei der Ausgestaltung der Protagonisten orientierte sich Fräulein SpiegeL ebenfalls nur teilweise an bestehenden Vorbildern. Mit Völkern wie den Arkhalaéyi oder Figuren wie der Elde-Szychei sind neue Varianten darunter, die sie mit passenden und interessanten Eigenschaften ausgestaltet hat. Lîskiths Persönlichkeit ist düster, geheimnisvoll und mitunter abweisend. Dadurch, dass wir einen Teil der Geschichte aus seiner Perspektive erleben, kommt er uns trotzdem nah und offenbart fürsorgliche und liebevolle Seiten. Lîskith ist ein Getriebener, den ein böses Erbe begleitet, welches auf die Geschehnisse abfärbt und die Richtung der Handlung bestimmt. In Jeónathars Charakter fließen die Persönlichkeiten Lil-Laés und Lîskiths, zusammen. Mit der Entschlossenheit eines Arkhalaéyi und dem zweiten Gesicht eines Zauberers folgt er dem Irrlichtpfad, der in die Düsternis führt. Die Vielschichtigkeit beider Protagonisten kommt auch durch einfache sprachliche Mittel zum Ausdruck. Denn für diejenigen, die ihren Namen verloren oder noch nicht gefunden haben, findet Fräulein SpiegeL viele Namen und Bezeichnungen. Denn Lîskith und Jeó entwickeln sich weit über das hinaus, was das Schicksal ihnen auferlegt.
Die Charakterisierung der handelnden Personen, einschließlich der Nebenfiguren, ist eine der großen Stärken in „Nirgendland“. Sie ist nicht darauf ausgelegt, gut und böse zu unterscheiden, sondern stellt ein Plädoyer für Vielfalt und Toleranz dar. Jeder ist so, wie er ist, mit großen und kleinen Schwächen, perfekt und notwendig für die Geschichte.
„[..] – es heißt, es gäbe solche, die sich das k’ha vertraut gemacht haben: die Sternenspieler. Sie spielen um die Farben, aus denen die Welt geschaffen ist: Schwarz und Weiß. Jeder spielt auf einer Seite, und jeder spielt nur eine Farbe. Mit dem Sternenmal zeichnen sie die, die einen besonderen Pfad begehen sollen im Gespinst des Schicksals.“ [Seite 237]
Am Ende der Reise…
fügen sich die Splitter aus Spiegelbildern zu einem Schicksalsgefüge. Fräulein SpiegeL verknüpft lose Fäden und klärt alle offenen Fragen. Doch sie würde ihrem Namen nicht gerecht, wenn sie nicht eine Hintertür einen Spaltbreit offenlassen würde: In eine weitere mitreißende und außergewöhnliche Geschichte mit traum- und albtraumhaften Bildern.
Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt,
Eva Bergschneider
Fantasy
Edition Roter Drache
September 2019
578
Melanie Phillippi
Funtastik-Faktor: 84
Hallo liebe Eva,
immer wieder toll , wie Du Deine persönliche Begeisterung oder auch mal negatives gekonnt mit in Deine Beiträge mit einfliesen lässt.
LG…Karin..
Danke Dir! Ich habe auch ein sehr schönes Feedback von der Autorin bekommen. Es macht richtig Spaß zu sehen, wie durch meine Artikel die Begeisterung für ein Buch überschwappt. LG, Eva