Shangri-La-Bleiche Knochen, Rote Erde – Ivan Ertlov

Schöner Sterben Down Under

Shangri-La, Bleiche Knochen, rote Erde - Ivan Ertlov ©Homegrown Games
Shangri-La, Bleiche Knochen, rote Erde ©Homegrown Games

Ein Mystery-Thriller über verschwundene Rucksacktouristen in einem Australien der nahen Zukunft, düster und gruselig? Das klingt erstmal gut, spannend, nach einem Buch mit viel Lokalkolorit. 
Geschrieben von Ivan Ertlov, dem selbsternannten Spaßvogel der Science-Fiction und Fantasy, der aber im ernsten Genre bis auf gelegentliche Dystopie-Abstecher wie „Generation 23“ nichts vorzuweisen hat? Das lässt Skepsis aufkommen. Basierend auf einem Computerspiel? Noch dazu einem Shooter, der als „Ultimate Trash“ vermarktet wird? Die Katastrophe ist vorprogrammiert (pun intended).

Während es bei den Romanumsetzungen von Tabletop & Rollenspiel durchaus einige Highlights zu nennen gibt (zum Beispiel die Warhammer 40K Romane rund um die Horus Heresy sowie diverse Shadowrun- und DSA-Reihen, geschrieben von Genre-Größen wie Markus Heitz und Bernhard Hennen), ist die Luft bei guten Computerspieleumsetzungen dünn. Ivan Ertlov will nun offenbar abseits seiner Stammgenres beweisen, dass es besser geht. Und legt mit „Shangri-La-Bleiche Knochen, Rote Erde“ seinen ersten Mystery-Thriller auf das Lesepult. Kann das gutgehen?

Nichts ist, wie es scheint

Wir reisen nach New Jersey, USA. Und schlüpfen in die Haut eines launigen, zynischen Ich-Erzählers mit dem Herz am rechten Fleck. Das kommt bekannt vor? Ja, John Harris aus der „Avatar“ Reihe lässt grüßen. Nur heißt er diesmal Pete O’Brannon, ist ehemaliger Soldat, ehemaliger Polizist, ehemaliger unfreiwilliger Operative der CIA und so weiter. Jetzt verdingt er sich als Privatdetektiv. Während die Einführung noch aus Reflektionen seiner Umgebung und Lebenssituation besteht, bewusst mit Klischees spielend und diese negierend, spielt sich eine Film Noir Szene vor dem geistigen Auge ab. Inklusive einer mysteriösen Auftraggeberin, die unangekündigt zur Tür hereinkommt und O’Brannon überreden will, ihre seit Jahren in Australien vermisste Tochter zu suchen. Bereits hier blitzt auf, was sich durch das gesamte Buch zieht: Nur selten ist etwas oder jemand, was er, sie (oder es) vorgibt zu sein. Nicht einmal Pete O’Brannon, der in Wirklichkeit als Peter Brenner geboren wurde. Aber das ist eine andere Geschichte, die man nicht kennen muss. Das Buch funktioniert auch ohne Vorwissen aus dem Spiel einwandfrei.

Einmal um die halbe Welt, die Taschen voller Geld

Zuerst geht es in das Indianapolis des Jahres 2024, überaus dystopisch und trostlos gezeichnet. Dass dies mehr an diversen Wirtschaftskrisen als an einer angedeuteten, offensichtlich glimpflich verlaufenen Beinahe-Zombieapokalypse der jüngeren Vergangenheit liegt, beschreibt Ertlov mit gehöriger Gesellschaft- und Kapitalismuskritik. Alles wie gehabt, also – bis Pete in Australien eintrifft. Hier laufen Landschafts- und Personenbeschreibungen zur Höchstform auf. Egal ob gnadenloses Outback, skurrile Charaktere oder die tödliche Fauna & Flora: Alles wirkt perfekt recherchiert, lebendig beschrieben, lässt einen in der Welt versinken. Die Ermittlungen nehmen Fahrt auf, viele verschiedene Spuren führen zu abgelegenen Farmen, grausigen Geheimnissen und in die dunkle Geschichte der Kolonialisierung. Die nach neuesten Erkenntnissen auch nicht mehr als Kolonialisierung, sondern als „Frontier Wars“ eingestuft wird. Also als Vernichtungskrieg gegen die australischen Ureinwohner. Als dann noch eine Fährte in das sagenumwobene zentralasiatische Königreich Shangri-La führt, vermischt sich reales Grauen mit exotischer Mystik.

Blackfella – Whitefella – Storyteller

Besonders beindruckend, bewegend und für die Story auch unerlässlich ist die Aboriginal Kultur und deren Vertreter, von denen Ertlov für dieses Buch gleich einige als Berater und Wissensvermittler mit an Bord geholt hat. Im Nachwort gibt es neben weiteren Erläuterungen diesbezüglich diverse Danksagungen, und die sind redlich verdient. Das vermittelte Wissen ist geschickt und eng mit der Story verbunden, die ihre übersinnliche Komponente lange Zeit erfolgreich verbirgt. Nur die Mystik der ältesten noch lebenden Kultur dieses Planeten wird gelegentlich einflochten. Pete begegnet der indigenen Kultur mit den typischen Vorurteilen und Stereotypen eines amerikanischen Europäers. Und diese zerlegt Ertlov ebenso gnadenlos wie gründlich. Auch ist es ein Blackfella (Selbstbezeichnung der Aborigines), der dem Whitefella (manchmal auch semi-beleidigend „Gubbah“ genannt) Pete auf die Sprünge hilft, um den Fall zu lösen, der an Dramatik und Härte nichts zu wünschen übriglässt.

Knallhart und spannend unter sengender Sonne

Während man in der ersten Hälfte des Buches noch in Sicherheit gewogen wird, immer wieder der typische Ertlov-Humor aufblitzt und der bitterernsten Thematik teilweise die Zähne zieht, geht es danach Schlag auf Schlag. Man kann keine Details nennen, ohne zu spoilern. Aber es wird brutal, düster und blutig. Dass dieser Wandel beiläufig und natürlich wirkt, macht das Erlebnis noch intensiver. Zieht uns noch tiefer in seinen Bann. Die Spannung, am Anfang noch auf leisen Wombatsohlen heranpirschend und von den Emotionen und Eindrücken des Protagonisten verdeckt, steigert sich immer mehr. Eine Story, die als „Captain Picard spielt Privatdetektiv im Holodeck“ beginnt, endet in einem furiosen Finale, das Erinnerungen an „Dirty Harry“ und „Ein Mann sieht rot“ weckt. Hier kommt dann auch die übersinnliche Komponente ins Spiel. Und an einigen Stellen scheint das Shooter-Erbe des Settings durch. Großes Action-Kino inklusive.

Abzüge in der B-Note

Keine Frage: „Shangri-La“ ist ein spannendes, intelligentes Unterhaltungswerk, nicht nur als Umsetzung eines Videospiels, sondern auch als würdiger Vertreter des Thriller-Genres selbst. Umso ärgerlicher, dass sich Ertlov ausgerechnet beim Zieleinlauf doch noch einen Stolperschritt leistet. Eigentlich sogar NACH der Ziellinie. Der Epilog nämlich wirkt fahrig und unrund, setzt sich stilistisch von der Hauptstory unangenehm ab. Er beendet zwar die Geschichte halbwegs befriedigend, kommt aber detailarm und überhastet um die Ecke. Hier wäre entweder ein völlig offenes Ende – ohne Epilog, oder ein vollwertiges weiteres Kapitel die bessere Wahl gewesen. Übrigens: Dass die Kamera bei erotischen Begegnungen im Augenblick der Action wegblendet, sind wir bei Ertlov gewohnt. Aber hier hätte es ruhig expliziter werden können, vergleichbar mit den Kampf- und Gewaltszenen.

Fazit

„Shangri-La“ ist nicht nur eine überaus gelungene Computerspiel-Adaption in Romanform. Sondern vor allem ein spannender, packender Near-Future Thriller mit clever gesetztem übersinnlichen Touch. Ein flottes Lesevergnügen auch für jene, die mit Games nichts am Hut haben, eine ausdrückliche Empfehlung für Leser*Innen von Mystery, Action-Thrillern und Rachekrimis. Sowie für alle Freunde Australiens, das hier mitsamt seiner faszinierenden indigenen Kultur von einem Insider gekonnt zum Leben erweckt wird. Für einen etwaigen Nachfolger erwarte ich mir jedoch, dass Stil und Sprache der Geschichte auch im Epilog beibehalten werden. Und auf meinem persönlichen Wunschzettel steht auch „bitte noch etwas mehr Sex zur Crime“, aber das ist zugegeben sehr subjektiv. 

Danke! an Gastredakteurin Tamara Yùshān

Infobox Videospiel

Das dem Protagonisten zugrundeliegende Computerspiel „Into the Dark“ ist ein Ultralow-Budget Action-Adventure mit Shooter-Schlagseite aus dem Jahr 2012, das 2014 als „Ultimate Trash Edition“ auf Steam wieder veröffentlich wurde. Im Laufe der hanebüchenen Handlung wird die Theorie aufgestellt, dass sich die USA mit der Übernahme von NS-Kriegsverbrechern nach dem zweiten Weltkrieg die Saat des Faschismus eingehandelt hat, und diese reichlich aufgegangen sei. Dies zeige sich von der antikommunistischen Hexenjagd der McCarthy Ära über Geheimprogramme unter Reagan bis hin zum „War on Terror“ unter George W. Bush.
Trotz inferiorer Technik, abstrusem Humor und zahlreichen Programmierfehlern (Bugs) erlangte es durchaus breite Popularität, unter anderem durch ein komödiantisch aufgezogenes GameTube Let’s Play. „Into the Dark“ gewann den Gamestar „Spiel des Jahres 2014“ Preis in der Kategorie „Beliebtestes Game der Community“ und „Best Adventure“ bei den internationalen IndieDB Awards. Als historisch relevant wird vom Grimme Institut eingestuft, dass es das erste Computerspiel war, welches in Deutschland trotz eines enthaltenen Hakenkreuzes die USK Freigabe erhielt. Sechs Jahre vor „Through the Darkest of Times“. 
Finanziert, geschrieben und produziert wurde das Machwerk damals von Homegrown Games, der Firma von Ivan Ertlov. Er selbst sprach die Hauptrolle . 

Shangri-La: Bleiche Knochen, Rote Erde
Pete O'Brannon Mystery 1
Ivan Ertlov
Mystery-Thriller
Homegrown Games Australia
August 2021
238
MNS Art Studio
86

2 Gedanken zu „Shangri-La-Bleiche Knochen, Rote Erde – Ivan Ertlov

  1. Zuallererst einmal vielen Dank für die ausführliche und überaus schmeichelhafte Rezension samt der Hintergrundrecherche zu „Into the Dark“.
    „Machwerk“ ist da keine Beleidigung sondern trifft den Nagel auf den Kopf 😉

    Zu den Kritikpunkten:
    1. Der Epilog – ja, mit dem bin ich auch nicht so ganz zufrieden, aber ich wollte es nicht mit dem Ende des Shangri-La-Kapitels gut sein lassen.
    2. Noch mehr oder expliziterer Sex wäre dann nicht mehr 16+, sondern 18+ – und in der Ecke will ich schon alleine deswegen nicht landen, weil ich alles, was ich schreibe, auch meiner Tochter guten Gewissens zum Lesen überlassen will. Darüber können wir dann in zwei jahren nochmals reden.

  2. Hallo und guten Tag,

    cool , wenn sich der Autor selber zu Wort meldet und wie er mit den Anmerkung umgeht.
    Das macht Lust und weckt mein Interesse…..augenzwickern…

    Danke…LG…Karin..

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