The Deep – Rivers Solomon

The Deep - Rivers Solomon © Hodder & Stoughton
The Deep © Hodder & Stoughton

Die Wahl zwischen Geschichte und Leere

Die Detroiter Techno Band Drexciya verband in den 1990er Jahren in einer Reihe von Veröffentlichungen die Sklavenbefreiung und das sagenumwobene Inselreich Atlantis zum Mythos „Drexciya“. Die Hip Hop Gruppe clipping. veröffentlichte 2017 für das Radioprogramm „This American Life“ ausgehend von Drexciya den Song „The Deep“. Der wurde 2018 für den Hugo Award in der Kategorie „Best Dramatic Presentation, Short Form“ nominiert.
Der Song ist der Ausgangspunkt für Rivers Solomons Novelle „The Deep“. Es ist eine Erzählung im Themengeflecht Diaspora – Sklaverei – Umweltausbeutung – Erinnerung an die eigene Geschichte. Das Nachwort zur Novelle, geschrieben von clipping., liefert Informationen zur Entstehungsgeschichte von Song und Buch.

Von einer terrestrischen Lebensform zur Meeresspezies

Die Wajinru (Chorus of the deep), eine Meeresspezies, sind die Abkömmlinge tausender schwangerer Sklavinnen. Während des transatlantischen Menschenhandels waren sie von den Schiffen der Händler ins Meer geworfen worden. Sie leben im Moment, ohne Bewusstsein von ihrer traumatischen Geschichte. Die Wajinru Yetu ist 34 Jahre alt und seit 20 Jahren Historikerin, ein lebendes historisches Archiv ihres Volkes. Einmal im Jahr wird ein Ritual praktiziert, Remembrance genannt. In dessen Verlauf wird die Geschichte von Yetu für drei Tage in alle Wajinru übertragen. Anschließend erfolgt die Rückübertragung an Yetu. Diese drei Tage sind der einzige Moment entlastender Leere für Yetu.

Als Historikerin muss sie ihre Identität und ihre persönlichen Bedürfnisse unterdrücken und sich als Gefäß in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Eine schmerzliche Aufgabe. Eines Tages rebelliert sie und flieht an die Meeresoberfläche. Sie landet schließlich erschöpft in einem Gezeitentümpel und hat ihren ersten Kontakt mit Menschen. Ungefähr zu dieser Zeit dringen Menschen in den Lebensraum der Wajinru ein und töten viele von ihnen auf der Suche nach Ölvorkommen. Dramatische Entwicklungen nehmen ihren Verlauf.

Soziale Konstruktion der Weltmeere

Ozeane lassen sich als physische Räume mit gegebenen Eigenschaften verstehen. Sie können aber auch sozial konstruiert werden. Diese Vorstellung reicht rund 2000 Jahre zurück und verbindet man sie mit dem griechischen Geographen Strabon.
Rivers deutet den Atlantik kulturell. Nämlich als Sphäre des Kontinente übergreifenden Sklavenhandels und integralen Bestandteils internationaler wirtschaftlicher und politischer Verflechtungen.

Dabei erfolgt die Schärfenziehung nicht auf die größte gewaltsame Migrationsbewegung der Menschheitsgeschichte. Sondern auf die durch den Sklavenhandel gebrochenen Identitäten. Auf eine grauenhafte Geschichte, die die Wajinru kaum ertragen können. Deshalb gibt es die Historiker*innen. Das kulturelle Gedächtnis der Wajinru hat hier seinen Ankerpunkt: Rassismus, Kolonialismus, der Warencharakter von Menschen und die Entstehung der Wajinru. Die entwickelten sich über Generationen und bauten eine idyllische Gesellschaft im Atlantik nahe der nordwestafrikanischen Küste auf.
Weiter spielen die Meere als Ressourcenlieferanten eine Rolle. Dies klingt vor allem gegen Ende der Novelle an, als Explorationsaktivitäten eines Ölkonzerns für die Wajinru zur Existenzbedrohung werden.

Ein Schöpfungsmythos

Die Geschichte der Wajinru ist nicht historisch verbürgt. Vielmehr setzt sie sich aus Erinnerungen zusammen, die unvollständig sind und teils von den Nachfahren aufgefüllt wurden.

„We were born breathing water as we did in the womb.“ [S.28]

„The Deep“ erzählt Fantasy. Wie (und ob) die Wajinru aus Salzwasser aufnehmenden Föten entstanden sind, kann niemand sagen. Aber man kann eine Geschichte erzählen. Die wurde von Mal zu Mal umfangreicher und besser, bis schließlich der Schöpfungsmythos der Wajinru in seiner heutigen Form einfach in der Welt war. Wie auch die ersten Wajinru vor 600 Jahren in der Welt waren. Und mit diesem Mythos wird die Realität gestaltet. Der Mythos erzählt eine tiefe, traumaimprägnierte Wahrheit. Die nicht zuletzt deswegen ohne die fehlenden Fakten auskommt, weil sie es muss.

Im Zentrum der Geschichte befinden sich Konflikte: Afrikaner*innen und Sklavenhändler, verschiedene Begegnungen zwischen Wajinru und Menschen, Tradition und Fortschritt, Individuum und Gemeinwesen, Wissen und Nichtverstehen.
Der Angriff des Ölkonzerns auf die Wajinru, die dem Profit im Wege stehen, ist auch ein Angriff auf ein Ökosystem. Veranschaulicht wird sie mit verschiedenen Beispielen aus unserer jüngeren Geschichte: Exxon Valdez in Alaska und BP imGolf von Mexiko).

Eine zärtliche Liebesgeschichte

Die wichtigste Erweiterung des Songs von clipping. besteht in der Entwicklung einer Protagonistin. Yetu vermittelt als kulturelles und historisches Gedächtnis auch uns Leser*innen die Details und das Gesamtbild. Darüber hinaus durchläuft sie einen Lernprozess, der ihrem Volk eine Perspektive bietet.
Yetu und Oori, die letzte Überlebende der Oshuben, sind die beiden am stärksten ausdifferenzierten Charaktere in „The Deep“.
Während Yetu unter den Erinnerungen und der Geschichte ihres Volkes leidet, empfindet Oori eine Leere ob ihrer Geschichtslosigkeit, die sie traurig macht. Sie ist dankbar für die wenigen Erinnerungen. Yetu hat ihr Volk verlassen. Und damit den einzigen Weg zu leben, den sie kennt, aufgegeben. Oori hat eine tiefe Sehnsucht nach Heimat. Die Wajinru und der Mensch nähern sich einander mit Neugier. Und es entwickelt sich eine Liebesgeschichte, die die Novelle mit einer hoffnungsvollen Note enden lässt.

Fazit

„The Deep“ ist eine schön geschriebene und gedankenreiche Novelle, nicht in die Breite, sondern in die Tiefe entwickelt. Die Entstehung der Wajinru ist ein Schöpfungsmythos, aus dem alles Weitere nachvollziehbar hervorgeht.

Das Buch ist bisher nur auf englisch erschienen, diese Rezension bezieht sich auf die britische Ausgabe.

DANKE an Gastrezensent Holger Wacker

The Deep
Rivers Solomon
Fantasy
Hodder & Stoughton
Dezember 2019
176
Sonia Chaghatzbanian
81

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