Amandara M. Schulzke sprach mit Theresa Hannig über ihren aktuellen Roman „Pantopia“, über den Krieg in der Ukraine und über politisches Unheil, aber auch über Hoffnung und Mut.
Think global, act local!
phantastisch-lesen: Die Künstliche Intelligenz hat es Dir angetan. Was fasziniert Dich persönlich daran?
Theresa Hannig: Das passiert immer wieder. Ich freue mich immer über technische Innovationen, weil sie die Realität ein bisschen mehr zu der Zukunft werden lassen, von der ich als Kind gehofft hatte, sie als junge Erwachsene bereits zu erleben. Und besonders freue ich mich, wenn Technologien, die ich in meinen Büchern als ferne Zukunft beschreibe, quasi schon morgen verfügbar sind. Wie z.B. die Kommunikationslinse, eine Kontaktlinse mit integriertem Computer, die zuallererst schwer Sehbehinderte unterstützen soll.
phantastisch-lesen: Du bist eine scharfe Kritikerin der subtilen Überwachung der Bürger durch ihre Aktivitäten im Internet. Worin siehst Du die größten Gefahren?
Theresa Hannig: Daten sollten sparsam und nur gut geschützt erhoben werden, bzw. nicht verkauft werden dürfen! Man weiß heute einfach noch nicht, wer welche Daten zu welchem Zweck missbrauchen könnte. Ein Blick in die USA zeigt, wie selbst scheinbar unverfängliche Daten zu einem großen Sicherheitsrisiko für Individuen werden können: Dort haben staatliche Stellen teilweise bereits Daten von Apps für Menstruationstracking gekauft. Anhand dieser Daten kann überprüft werden, welche Frauen möglicherweise schwanger sind. Wenn diese Frauen dann versuchen, in einem anderen Staat eine Abtreibung vorzunehmen, könnten sie sich – nach den Gesetzen einiger Bundesstaaten – strafbar machen, an der Grenze abgefangen und ins Gefängnis gesteckt werden. Das ist ein absolutes Horrorszenario, das gerade jetzt in Amerika stattfindet.
phantastisch-lesen: Sicher hast Du die Entwicklung der Google-Software Lamda aufmerksam verfolgt. Ist oder könnte sie eine wahr gewordene Entsprechung von Einbug, deiner KI in Pantopia sein?
Theresa Hannig: Ich bin da leider sehr skeptisch. Ich glaube nicht, dass wir technisch tatsächlich bereits auf dem Stand sind, eine echte starke KI hervorzubringen. Aber die Zeit wird zeigen, ob Lamda (das meines Wissens bereits einen Anwalt besitzt) Personenstatus erhält oder nicht. Tatsächlich ist und wird es ein Problem bleiben, dass wir Menschen keine (verlässliche) Methode haben, um festzustellen, ob mein Gegenüber ein Bewusstsein besitzt oder nicht. Der Turing Test ist da zwar ein Hilfsmittel, aber kein zuverlässiges. Immerhin kann ich auch nie zu 100 Prozent wissen, ob mein menschliches Gegenüber wirklich ein Bewusstsein hat oder nicht. Das sind philosophische Überlegungen, die die Menschheit schon seit langem umtreiben.
phantastisch-lesen: Seitdem Du „Die Optimierer“ geschrieben hast, sind sicher sieben bis acht Jahre vergangen. Was war für Dich die unheilvollste politisch, gesellschaftliche Entwicklung seitdem?
Theresa Hannig: Rechtsrutsch in Österreich und Polen, Radikalisierung in Ungarn, brennende Flüchtlingslager, Krieg in der Ukraine, Gewalt der religiösen Rechten in den USA…. Ich habe sicher noch so einiges vergessen, aber das finde ich alles schon sehr beängstigend.
phantastisch-lesen: Was macht Dir Mut und gibt Dir Hoffnung in unserer Gesellschaft?
Theresa Hannig: Ich glaube, dass die meisten Menschen – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – Gutes tun und ein nützlicher und angesehener Teil der Gesellschaft sein wollen. Die wenigsten Menschen mögen Gewalt und wollen andere übervorteilen. Ich glaube, dass das positive und produktive Potential unserer Gesellschaft und der Menschheit als Ganzes enorm ist! Wir müssen dieses Potential nutzen und die Reichtümer unserer Welt (Geld, Bildung, Natur, Rohstoffe usw.) so fair wie möglich verteilen. Dann haben wir eine Chance, als Zivilisation die anstehenden Katastrophen des 21. Jahrhunderts (Klimakatastrophe, Artensterben, Plastikvermüllung, Pandemien) zu überleben.
phantastisch-lesen: Seit Jahrzehnten fühle ich mich als Normalbürger ziemlich hilflos – fremdbestimmt – und frage mich immer wieder, was ich selbst tun kann, um gesellschaftliche Prozesse zu beeinflussen. Hast Du Ideen?
Theresa Hannig: Think global, act local! Wenn man an die globalen Probleme denkt und sich dann des eigenen sehr kleinen Wirkungskreises bewusst wird, kann man schnell verzweifeln. Aber das muss nicht sein. Jede*r von uns hat einen Wirkradius, den wir nicht unterschätzen sollten. Lieber einen Menschen positiv beeinflussen als gar keinen. Ich ziehe Kraft aus der Hoffnung, dass die Themen, mit denen ich mich beschäftige und über die ich schreibe, von Person zu Person weitergegeben werden und durch meinen Diskussionsbeitrag ein Bewusstsein dafür entsteht, dass jede*r von uns durch seine*ihre Handlungen einen Unterschied macht.
Und ganz konkret: Handeln macht glücklich. Wenn du schon nicht die Weltpolitik beeinflussen kannst, dann schließ dich einem lokalen Ableger des Bund Naturschutz an oder hilf bei der Tafel oder geh in den Ortsverein deiner Partei und engagier dich in der Kommunalpolitik, werde Freiwillige*r in der Flüchtlingsunterkunft, hilf beim „rama dama“ (bayerisch für „wir räumen auf“), werde Vorlesepatin an der Schule. Es gibt TAUSENDE Möglichkeiten, dich zu engagieren, und die Welt ein bisschen besser zu machen. Und das sorgt für dich persönlich für ein besseres Lebensgefühl. Wir sind soziale Wesen. Anderen zu helfen, macht uns glücklich.
phantastisch-lesen: Was hat Dich bewogen, wiederholt eine Utopie zu schreiben? Welche Ideen müssen unbedingt im Volk, und vor allem bei Wirtschaftsbossen und Politikern, greifen?
Theresa Hannig: Nachdem ich zwei Dystopien geschrieben habe, hatte ich das dringende Bedürfnis, eine Welt zu beschreiben, in der endlich alles funktioniert und „gut“ wird. Die Grundidee hinter dem Ganzen lautet: Wir als Menschheit haben schon sehr gute Ideen und Konzepte entwickelt, um auf diesem Planeten fair und nachhaltig zu leben. Wir müssen diese Konzepte nur ernst nehmen und danach handeln. Dann klappt es auch mit der Zukunft. Die Details stehen in „Pantopia“.
phantastisch-lesen: Wie siehst Du die Rolle der Superreichen? Wenn Du Milliardären etwas sagen könntest, was wäre das?
Theresa Hannig: Zahlt Steuern, zahlt faire Löhne, verbraucht privat nicht so viel CO2 wie ein mittelgroßes afrikanisches Land. Spendet euer Geld (also mehr als 1 Mrd. braucht wirklich niemand!) an Organisationen, die Mensch und Natur schützen und versucht darüber hinaus, nicht als Privatpersonen Macht zu akkumulieren.
phantastisch-lesen: Welche Fragen würdest Du Elon Musk stellen, dem mittlerweile reichsten Mann der Welt?
Theresa Hannig: Ich hatte mal versucht, ihn für ein Rechercheinterview zu kontaktieren. Das habe ich mittlerweile aufgegeben, weil ich es thematisch nicht mehr brauche. Persönlich habe ich keine Fragen an ihn.
phantastisch-lesen: Ist „Pantopia“ nicht zu eurozentristisch gedacht und realisiert? Es gibt verbale Schwenks Richtung China und Afrika. In Asien profitieren die Arbeiterinnen in der Textilindustrie am meisten von Pantopia. Wie wir seit vielen Jahrhunderten wissen und erleben, sind gerade Führer von Religionen Kriegstreiber und Manipulatoren. Kommt deren Rolle beim Umbau der Weltgesellschaft nicht zu kurz?
Theresa Hannig: Ja, den Schuh muss ich mir anziehen. Pantopia ist eurozentristisch aus dem praktischen Grund, dass es in Deutschland entsteht und die KI auch von Deutschen entwickelt wird. Ich habe versucht, bei der Konzeption von Pantopia so global wie möglich zu denken, aber natürlich bin auch ich in der europäischen Wirtschafts- und Denkgeschichte verwurzelt. Ehrlicherweise kann ich nur schlecht aus afrikanischer oder südamerikanischer Perspektive schreiben. Dafür fehlt mir die Erfahrung. Einiges kann man sich durch Recherchen aneignen, vieles aber nicht. Da würde ich empfehlen, lieber Own-Voice Autor*innen aus den entsprechenden Regionen zu lesen.
phantastisch-lesen: In „Pantopia“ beginnt die Begrüßung der Gäste mit dem rigorosen Verbot von Fotos und dem Heraustragen bestimmter Informationen. Hast Du damit nicht auch diktatorische Züge festgelegt?
Theresa Hannig: Ich finde das nicht diktatorisch. Das Verbot betrifft nur Menschen, die noch nicht Archen von Pantopia geworden sind und bei denen man – zu Recht, wie sich herausstellt – fürchten müsste, dass sie Pantopia noch vor der Entstehung zerstören. Es ist eine Sicherheitsmaßnahme, die ich verhältnismäßig finde. Niemand muss nach Edafos reisen. Wer aber die Einladung annimmt, wird von vornherein darauf hingewiesen, dass Fotos und Videos nicht erlaubt sind.
phantastisch-lesen: Seit Ende Februar beherrscht der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine unser Fühlen, Denken und vielleicht sogar Handeln. Für unsere Medien ist er das Hauptthema. Schreibst Du Pantopia 2? Hast du eine Idee, wie Du belletristisch mit aktuellen Kriegen umgehen kannst?
Theresa Hannig: Es wird kein Pantopia 2 geben. Ich bin sehr froh, dass ich Pantopia rechtzeitig geschrieben habe, denn im Augenblick würde ich es wohl nicht mehr schaffen, diese Menge an Hoffnung für die Welt aufzubringen. Als nächstes (obwohl es eigentlich schon in allen Geschichten darum geht) wird mich die Klimakrise literarisch beschäftigen.
phantastisch-lesen: Was hältst Du von den Waffenlieferungen in die Ukraine? Hätte sie nicht von Anfang an kapitulieren sollen, um Menschenleben zu bewahren?
Theresa Hannig: Ich finde, es steht uns in Frieden und Sicherheit lebenden Menschen, deren größte Sorge ist, dass der Flieger nach Mallorca gestrichen wird, das Benzin für den SUV noch teurer wird oder ich Margarine statt Butter kaufen muss, nicht zu, über das Recht auf Selbstverteidigung anderer Menschen zu urteilen. Jede*r hat das Recht, sich und seine Familie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen einen Aggressor zur Wehr zu setzen. Ich finde es richtig, dass wir Waffen an die Ukraine liefern, schäme mich für mein Land, dass wir so lange damit gewartet haben und unser Bundeskanzler eine eigenartige Hinhaltetaktik an den Tag legt. Ich würde gerne in einer Welt leben, in der wir keine Waffen mehr brauchen. Aber solange es Despoten wie Putin gibt, die aus weiß der Teufel welchen Gründen tausende von Menschen in den Tod schicken können, können wir es uns nicht leisten, darauf zu vertrauen, dass auch ohne Gewalt alles gut gehen wird.
phantastisch-lesen: Wenn Du unseren Leser:innen ein Buch empfehlen solltest, das von gesamtgesellschaftlichen Prozessen handelt, welches wäre das?
Theresa Hannig: „The Ministry for the Future“ von Kim Stanley Robinson.
phantastisch-lesen: Woran schreibst Du gerade?
Theresa Hannig: Auf Twitter poste ich ab und zu Infos darüber.
phantastisch-lesen: Welche Bitte hast Du an uns Leser?
Theresa Hannig: Lest weiter, seid fair und empathisch und stellt euch der Verantwortung, die ihr auf diesem Planeten habt.
DANKE an Amandara M. Schulzke für das interessante Gespräch mit Theresa Hannig und DANKE an Theresa Hannig für die erhellenden Antworten. Falls ihr noch mehr über Theresa Hannigs Sicht der Dinge lesen möchtet, findet ihr hier das erste Interview von phantastisch-lesen mit ihr.
Hallo liebe Eva,
Danke für das geführte Interview mit der Autorin Theresa Hannig….mancher gibt es auch schon in unserer Zeit…Sozialpunkte/Kids, die per Handy überwacht/geortet werden können….
Also mir gefällt diese ganze Entwicklung gar nicht…
LG..Karin..
Danke für Deinen Kommentar, Karin.:-) Ich finde es auch erschreckend, wie dicht wir zum Teil schon an solchen Systemen wie Sozialpunkte dran sind. Auch Themen wie Cyberkriminalität und Willkür im Umgang mit sensiblen Daten drängt sich immer mehr in den Fokus. Viele Grüße, Eva