All the White Spaces – Ally Wilkes

Das Grauen im einst ewigen Eis

All the White Spaces - Ally Wilkes © Titan Books, weisser Hintergrund, ein Loch im Eis, weisse Schrift auf hellgrauem Hintergrund,
All the White Spaces © Titan Books

Nachdem im Dezember 1918 die Nachricht über den Tod ihrer Söhne Rufus und Francis in den französischen Schützengräben die Familie Morgan erreicht hat, will Teenager Jo, noch keine 18 Jahre alt, den Traum der Brüder realisieren. Er plant mit dem berühmten Forscher James „Australis“ Randall auf dessen Schiff Fortitude eine Expedition in die Antarktis zu unternehmen. Harry, ein Freund der Familie, der mit den Morgan-Brüdern in Frankreich gekämpft hat, begleitet Jo. Jo nennt sich fortan Jonathan.

Zu Beginn läuft die Expedition nach Plan, was sich jedoch ändert, als die Fortitude im Weddell-Meer festfriert. Nach einem Brand muss die Besatzung im Eis einen Ort zum Überwintern finden. Ein Teil der Männer bleibt auf dem zerstörten Schiff, der Rest begibt sich auf die Suche nach der Station, die das verschollene Team des deutschen Forschers Karlmann gebaut hat. In der bedrückenden Dunkelheit des antarktischen Winters sieht sich die Crew bald einer tödlichen Bedrohung ausgesetzt.

Literarische und filmische Bezüge

Während der Lektüre von „All the White Spaces“, dem ersten Roman der Juristin Ally Wilkes, musste ich an Sir Ernest Henry Shackleton denken, den berühmten Polarforscher. Dies nicht etwa, weil ich ihn persönlich gekannt hätte. Sondern weil Ally Wilkes sich in den Bemerkungen zum Roman, „A word about history and geography“, ausdrücklich auf Shackleton bezieht und dessen biographische Texte eine der Grundlagen ihres Werkes sind. Dem Roman hat sie ein Literaturverzeichnis beigefügt.

Wilkes‘ Figuren halten sich kurzzeitig in Grytviken auf, einer Walfangstation auf der Insel Südgeorgien. Auf dem dortigen Friedhof ist Shackleton seit dem 5. März 1922 beerdigt. Sein Expeditionsschiff Endurance ist 1915 im Weddell-Meer gesunken. Zwischen diesem Ereignis und Shackletons letzter Forschungsreise im Jahr 1921 ist „All the White Spaces“ zeitlich angesiedelt. Es gibt im Text aber keine Hinweise auf historische Personen wie Shackleton.

„All the White Spaces“ lässt sich kaum lesen ohne Bezüge zu „The Terror“, diese beinahe schon Überwerk zu nennende Fiktion von Dan Simmons. „The Terror“ spielt in der gegenüberliegenden Polarregion, erzeugt ähnliche Situationen und hält die Bedrohung ebenfalls lange Zeit in der Schwebe. Anders als Simmons, der mit verschiedenen Handlungssträngen arbeitet, gibt es bei Wilkes eine lineare Erzählung aus der Ich-Perspektive der Hauptfigur. Zwar hat das Buch nur zwei Drittel des Umfangs von „The Terror“, enthält aber einige leicht variierte Wiederholungen. In Details bezieht sich Wilkes auf „The Thing“, einen Horrorfilm von John Carpenter aus dem Jahr 1982. Die Hauptfigur bei Carpenter heißt R. J. MacReady, der Koch auf der Fortitude Robert Macready.

Der Ruf des Südens

In meiner frühen Jugend oder späten Kindheit, noch eine Zeit entfernt von der Spanne, die heute mit young adult getaggt ist, habe ich gerne Abenteuergeschichten gelesen, am liebsten von Jack London. Während der Lektüre von „All the White Spaces“ fielen mir immer wieder zwei Titel von London ein. Als Jonathan Morgan den Beschluss fasst, anstelle der toten Brüder in die Antarktis zu fahren, schließt der Abschnitt mit den Worten: „Because I heard it then: the call of the South.“ (S. 18)

Ein Roman von Jack London heißt „The Call of the Wild“ („Der Ruf der Wildnis“). Er spielt zur Zeit des Goldrausches in Klondike, beschreibt das harte Leben aus Sicht eines Hütehundes, der sich in ein Wildtier transformiert. Das zweite Buch ist „The Sea-Wolf“ („Der Seewolf“). Hierin geht es um die Transformation eines in der Seefahrt unerfahrenen Mannes.

Mit dem Ruf des Südens beginnt also eine Abenteuergeschichte wie im fiktionalen Kosmos von Jack London, aber in einem historischen Setting und erweitert um zwei wichtige Elemente, Horror und Gender.

Survival Horror

Die Geschichte spielt in den Jahren von 1918 bis 1920. Der Erste Weltkrieg ist vorbei, seine Folgen aber, insbesondere Traumata und der Verlust von Menschen, sind überall gegenwärtig. Während ihrer Polarexpedition wissen die Figuren nicht, wie es mit der Fortsetzung von Feindseligkeiten aussieht, vor allem später, als die Crew im Eis festsitzt und sich in das menschenleere deutsche Camp rettet. Alle Beteiligten sehen sich ihren persönlichen Gespenstern ausgesetzt, und dies nicht nur im übertragenen Sinn.

Die übernatürliche Bedrohung scheint sich von den Ängsten und der Verzweiflung der Menschen zu nähren. Lange bleibt in der Schwebe, ob die Figuren ihren Verstand verlieren oder es eine existenzielle Bedrohung an diesem lebensfeindlichen Ort gibt. In ihrem Kampf ums Überleben wird die Klärung dieser Frage zunehmend wichtig.

Mysterium der Identität

Die Hauptfigur in „All the White Spaces“ ist in der bürgerlichen englischen Gesellschaft als Mädchen aufgewachsen und hat eine Selbstwahrnehmung als männlich, was sehr subtil gehandhabt und erst spät in der Erzählung deutlich wird. Wilkes thematisiert nicht, wie sich Jonathan als Transmann in der Gesellschaft, respektive einem Mikrokosmos von Männern auf der Polarexpedition, sichtbar macht oder einen Platz sucht, welche Interaktionsprobleme sich daraus ergeben können. Wer den Text so liest, könnte das Thema als oberflächlich oder nebenläufig behandelt sehen.

Wilkes beschreibt den Aspekt der Transition, die Dynamik des Übergangs. Und diese Dynamik spielt sich weitestgehend im Innenleben der Figur ab, bis hin zu inneren Monologen. Hilfreich ist ein Raum, der den Übergang erleichtert, weil er befreit von den sozialen Fesseln des Alltagslebens.

Fazit

Ally Wilkes hat mit „All the White Spaces“ eine clever gearbeitete Verbindung aus Survival Horror und klassischer Abenteuergeschichte veröffentlicht. Das Buch kann auch als historischer Roman rezipiert werden. Ein interessantes Werk, nicht nur für bücherbasierte Lebensformen.

Dabke an Gastredakteur Holger Wacker für die Besprechung des englischsprachigen Originals.

All the White Spaces
Ally Wilkes
Phantastik Plus / Horror
Titan Books
Januar 2022
Buch
496
Julia Lloyd
78

Schreibe einen Kommentar