Das nächste Jahrhundert – Kolonie Europa
Seit vierzig Jahren hat die NASA den Jupitermond Europa als Kandidaten für die Existenz von einfachen Lebensformen auf dem Schirm. Europa bietet gefrorenes Wasser, einen unterirdischen flüssigen Ozean und Geysire. Die NASA-Sonde „Europa Clipper“ soll bei ihrem Vorbeiflug an Europa Proben sammeln.
Erin K. Wagner hat diese reale Ausgangslage in das nächste Jahrhundert fortgeschrieben. Handlungsort ihrer Novelle „An Unnatural Life“ ist die Kolonie Europa, Handlungszeit die zweite Hälfte des Jahres 2145. Europa wird nutzbar gemacht, Wissenschaftler suchen im Auftrag der Hazlo Corp. nach Mikroorganismen. Es gibt in der Kolonie Menschen und empfindsame Androiden, Robotnik (Einzahl) und Robotnici (Mehrzahl) genannt, deren Lebensspanne der doppelten eines (durchschnittlichen?) Menschen entspricht.
Ein als Mörder an einem menschlichen Arbeiter verurteilter Androide mit der Bezeichnung „Worker-class, ID 812-3“ beteuert seine Unschuld. Die Anwältin Aiya Ritsehrer will für 812-3 ein Berufungsverfahren in die Wege leiten. Zwar wurden künstliche Lebensformen vor kurzer Zeit auf der Erde zu Rechtssubjekten erklärt. Aber das Militär auf Europa widersetzt sich der schnellen Umsetzung der neuen Rechtslage. Hauptargument für die Berufung ist, dass es im Strafverfahren nur menschliche Geschworene gab. Aiya muss sich nicht nur mit Menschen auseinandersetzen, die einen fairen Prozess verhindern wollen. Sie muss sich auch ihren eigenen Vorurteilen stellen.
Erinnerung an Commander Data
Wichtiger als der Mordfall ist die Frage nach der gesellschaftlichen und rechtlichen Stellung des Androiden.
Die Geschichte erinnert an „Wem gehört Data?“, die neunte Episode der zweiten Staffel von „Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert“. Darin will der Sternenflottenoffizier und Kybernetiker Maddox den Androiden Commander Data auseinanderbauen und die Daten aus dessen positronischem Gehirn kopieren, um Data ähnliche Androiden zu erschaffen. Data will kündigen, das Recht dazu wird ihm jedoch mit der Begründung, er sei Eigentum der Sternenflotte, abgesprochen. Es folgt ein Prozess, in dem es um Emotionalität und Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Sklaverei geht. Auf einer grundsätzlichen Ebene schwingt die Frage mit, ob Menschenrechte und menschliches Recht auf Data anwendbar sind.
Androiden als das Andere – einmal mehr die Neue Welt
Sieht man bei Wagner von technologischen Beschreibungen des Androiden ab, davon, dass er eine Art Gedächtnis-Chip für exakte Protokolle von Ereignissen und Beobachtungen hat, unterscheidet er sich von den Menschen nur durch sein Anderssein, sein Fremdsein.
Wagner verwendet die künstliche Intelligenz (KI) nicht als eine Möglichkeit, zu zeigen, was zu entwickeln der Mensch in der Lage ist. Sie sieht davon ab, KI als eine Extension des Menschen im Sinne der Transhumanität zu inszenieren. Im Grunde den unvollkommenen Menschen als Status quo zu setzen, das angenommene menschliche Potenzial als künftigen Status zu fassen und schließlich in dialektischer Manier eine Synthese zu erschaffen, die Android genannt werden kann. Es geht also nicht um uns im technologischen Möglichkeitenraum.
Wagner inszeniert den Androiden als eine humanoide Intelligenz, die in ihrem Wesen als alternative Kultur verstehbar ist. Dadurch erscheint er als eine Figur aus der Zeit des Kolonialismus, über den Post-Kolonialismus hinaus fortgeschrieben in die Zukunft. Im Gespräch über einen möglichen Kontakt mit Aliens heißt es einmal, in kolonialistischem Gestus:
„You forget that it’s our planet now.“ [S.121]
Aiya hat den fernen Jupitermond als Versprechen einer Neuen Welt gesehen. Aber es ist nur eine kleine Kolonie, die Umweltbedingungen sind brutal für die Kolonisten. Ein wenig erinnert dies vielleicht an Jamestown.
Träumen Androiden vom Menschsein?
Die Androiden auf Europa sind bemüht, ihren Platz zu finden und von Menschen akzeptiert zu werden, die sich weigern, sie als gleichwertig anzuerkennen. Als Personalpronomen verwenden sie für 812-3 mal „er“, mal „es“. Er selbst spricht von sich als „ich“. Ob er eine gendersensible Vorstellung von sich hat, ist unklar.
Ein grundlegendes Problem ist, dass 812-3 sagt, er sei nicht der Mörder. Später räumt er die Möglichkeit ein, er könne technisch manipuliert und für den Mord missbraucht worden sein oder aus Liebe getötet haben.
Denken wir an Eigenschaften eines Androiden, dann stellt sich angesichts der Robotergesetze von Isaac Asimov die Frage, wie diese Eigenschaften ausgeprägt sein müssen, damit ein Roboter einen Menschen tötet. Eine weitere Frage ist, ob Androiden unbemerkt von ihren Entwicklern die Fähigkeit zur Lüge ausbilden können. Falls ja, wäre dies ein möglicher Indikator für die vieldiskutierte, in den nächsten Jahrzehnten beispielsweise von Ray Kurzweil erwartete technologische Singularität.
Moralische Maschinen
Grundsätzlich stellt die KI-Nutzung, vielleicht irgendwann die Interaktion von Mensch und Maschine, die Menschen vor zwei ethische Probleme: Wie soll künstliche Intelligenz genutzt werden? Können KI ihren eigenen Sinn für Moralität haben, bis hin zu einer Komplexitätsstufe, auf der sie eigenständig moralische Entscheidungen treffen? Dies spielt bei Wagner nur eine marginale Rolle, ebenso wie die Frage, wie das technisch implementierte Wertesystem aussehen sollte.
Implizit läuft in der Novelle die Frage mit, ob die moralischen Werte, die auf Androiden Anwendung finden, in der menschlichen Gesellschaft anerkannt werden. Werte müssen als kulturelle Parameter erlernt werden. Androiden sind keine Menschen, in welcher Weise sollen dann Ethik und Moral auf sie anwendbare Kategorien sein?
In Ridley Scotts Film „Blade Runner“ wird der Android Leon nach guten Erinnerungen an seine Mutter gefragt, was zu einer dramatischen Reaktion führt. Androiden werden nicht (biologisch) geboren. Ein nicht weiter bestimmter Teil der Gesellschaft argumentiert soziobiologisch und rechtfertigt so den gesellschaftlichen Status quo.
Wagner unterlässt es, die gesellschaftlichen Aspekte auszuloten. Sie liefert keine Analyse von Bedingungen, die den Rechtsstatus der Androiden erklären würden. Durch kulturelle und (post-)koloniale Bezüge schafft sie jedoch grundsätzlich Rezeptionsbedingungen für ihre Novelle, die das Nachdenken über die angesprochenen Probleme anregen könnten.
Fazit
Erin K. Wagner hat mit „An Unnatural Life“ eine hochinteressante Novelle geschrieben, die eine spannende Story erzählt und eine Vielzahl an Fragen aufwirft, ohne sie zu beantworten.
Holger Wacker
Science Fiction (Novelle)
Tordotcom
September 2020
190
Will Staehle
Funtastik-Faktor: 82