Ein faszinierender Mix aus Magie, Physik, Alternativhistorie und queeren Lebensentwürfen
Auf der fünften Solvay-Konferenz 1927 erregt die Physikerin Nike Wehner unter den zumeist männlichen Teilnehmenden Aufsehen. Denn sie kombiniert Physik, Technik und Kunst zu – Magie. Mit Braunscher Röhre und Magnetfeldern erweckt sie das live entstehende Kunstwerk eines Malers zum Leben. In ihrer Dissertation möchte Nike darlegen, wie diese Art von Magie funktioniert. Braucht sie dualistische Bezugspunkte? Wissenschaft und Kunst? Frau und Mann?
Während die Forschenden noch rätseln, hat sich das Verbrechen das Wunder bereits angeeignet. Der KPD-Politiker Paul Frölich stirbt, indem er auf einer Baustelle in Marmor einsinkt. Damit nicht genug. Eine Vermieterin vom Prenzlauer Berg wird versteinert. Anschließend taucht diese Statue in einer Physik-Kunst-Magie Show der Kommilitonin Erika auf. Diese machtvolle Methode nutzen auch jene, die von einem monumentalen Deutschen Reich träumen. Und sie schrecken vor nichts zurück.
Nike arbeitet zusätzlich als Beraterin bei der Polizei im Team von Kommissar Seidel, das diese neuartigen Verbrechen aufklären soll. Zur Verstärkung, sowohl der wissenschaftlichen als auch der Polizeiarbeit, wird der Bildhauer Sandor Ćerny aus Prag engagiert. Auf der Suche nach Zeugen trifft und verliebt sich Nike in Georgette. Die transFrau arbeitet tagsüber im Männeroutfit als Psychologin und tritt des Nachts als Varietétänzerin auf.
Die Jagd nach magiebegabten Mördern führt Nike und Sandor tief hinein in die politische Szene Berlins und sie geraten zwischen gefährliche Fronten. Zugleich eröffnet das queere Berlin ungewohnte Perspektiven, mutige Erkenntnisse und prickelnde Leidenschaft.
Mehr als „Babylon Berlin“ mit Magie
Die Überschrift der Rezension deutet schon an, dass Judith und Christian Vogt mit „Anarchie Déco“ einen Roman geschrieben haben, der viele spannende Themen verbindet. Und zu Magie, Physik und queeren Lebensperspektiven gesellen sich noch Feminismus. Sowie jede Menge politischer Sprengstoff und ein Zeitgemälde der Weimarer Republik. All dies ist eingebettet in einen spannenden Krimi-Plot, der leichtfüßig in eine Alternativhistorie springt. Und sich mit Urban-Fantasy Elementen schmückt. Haben die Schreibenden angesichts der Fülle an Themen und Motiven vielleicht zu viel gewollt und zu wenig Geschichte erzählt? Mitnichten.
Der Slogan „Babylon Berlin“ mit Magie trifft einerseits ins Schwarze. Wie in der TV-Serie nach den „Gereon Rath“ Romanen von Volker Kutscher treffen wir auf historische Persönlichkeiten und Schauplätze. Zum Beispiel den „Buddha“, Kriminalrat Ernst Gennat, und die „Rote Burg“, das Polizeipräsidium Berlin Alexanderplatz. Andererseits beinhaltet der Roman so viel mehr, streift die Wissenschaft, weitere politische Strömungen und natürlich das übernatürliche Element.
„Anarchie Déco“ dreht sich um einen fiktiven Zweig der Physik. Entsprechend treffen wir unter anderem auf Lise Meitner, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg und schließlich Albert Einstein. Die Beschreibung der Wohnsituation in armen Stadtteilen wie Prenzlauer Berg und der explosiven politischen Stimmung zwischen Kommunisten, Anarchisten und Nazis lassen die Atmosphäre der späten 1920er Jahre authentisch wirken. Judith und Christian Vogt ist es gelungen, den historischen Rahmen mit dem Missbrauch physikalisch erwirkter Magie zu verknüpfen. Diese extravagante Storyidee passt perfekt zum radikalen Zeitgeist der 20er Jahre.
„Um das Unmögliche zu verstehen, müssen Sie neugierig bleiben, Fräulein Wehner! Seien Sie etwas mutiger!“ [S. 27]
Gegensätzliches vereint
Judith und Christian Vogt haben sich in ihren Romanen der diversen Charaktere verschrieben und zeigen, wie dies ohne Quotenregelung völlig unverkrampft gelingt. Mit Nike Wehner erschufen sie eine Protagonistin, die sich mit Wissen und Selbstbewusstsein in der Männerdomäne Physik durchsetzt. Zugleich bringt sie aber auch Verletzlichkeit mit. Geprägt von den Erfahrungen ihrer Mutter als zurückgelassene Einwanderin aus Ägypten, fällt es ihr nicht leicht mit Konventionen zu brechen, die Frauen ein sicheres, komfortableres Leben versprechen. Letztendlich ist es die Neugier, die ihr neue Wege eröffnet. Mit Georgette erobert Nike das queere Berlin der 20er und eine Weise zu lieben, die sie erfüllt. Eine heiße Liebesszene mit Offenheit und Respekt im erotischen Miteinander gehört zu den gelungensten Passagen des Romans.
Sandor Černý wirkt, obwohl er politisch und sexuell eigenwillig agiert, im Vergleich zu den beiden Frauen schon fast unscheinbar. Doch auch er stellt seinen freigeistigen Charme auf originelle Weise in den Dienst der Sache. Wichtigste Nebenfigur ist Oberkommissar Seidel, ein Polizist kurz vor der Rente. Typisch für ihn sind sein Gerechtigkeitssinn und eine Leidenschaft für Häkeldeckchen. Eine Schrulle, die ihren Grund hat und ihn sympathisch wirken lässt. Auch an Seidel zeigt sich, dass die Vögte ausgezeichnete Charakterarbeit leisten und ihre Figuren zu Persönlichkeiten entwickeln.
Die Offenheit der Figuren ergänzt sich beispielhaft mit Überwindung der Grenzen zwischen Wissenschaft, Kunst und Metaphysik. Geschickt flechten J.C. Vogt Beispiele wie den „Goldenen Schnitt“ ein, um Anknüpfungspunkte zwischen anscheinend gegensätzlichen Fachgebieten aufzuzeigen. Trotzdem gelingt die Erklärung der Technik, mit der die Magie erwirkt wird, nicht immer. Vielleicht hätte man am Ende des Buchs ein wenig Basiswissen über Bildgebung mit der Braunschen Röhre vermitteln können.
Wie aus den letzten Veröffentlichungen gewohnt, schreiben J.C. Vogt gendersensibel und modern. Der Stil passt vielleicht nicht perfekt zur 20er Jahre Atmosphäre, was mich allerdings nicht gestört hat. Die Verwendung des Begriffs „Tippfräulein“, anstelle von Schreibkraft, sticht allerdings heraus. Warum wurde ausgerechnet diese Frauen klein machende Berufsbezeichnung gewählt? Darüber hinaus haben mir die extrem kurzen Kapitel und ständigen Schauplatzwechsel im letzten Teil des Romans nicht gut gefallen, weil die Geschichte dadurch sehr gehetzt wirkt und nicht mehr so rund wie zuvor.
Fazit
„Anarchie Déco“ ist ein Alternativwelt-Fantasy Roman, der die LeserInnen mit einem progressiven Magiekonzept und einem ultraspannenden Krimi-Plot unterhält. Die Geschichte atmet den explosiven Zeitgeist der späten 20er Jahre. Und gerade die Transgender- und queeren Protagonisten sorgen dafür, dass das alternative Zeitportrait realistisch und wahrhaftig herüberkommt.
Besonders gut gefällt mir an dem Buch auch das abgefahrene Coverbild, illustriert von Tom Cage. Es ist wunderbar prägnant und passt perfekt.
Eva Bergschneider
Fantasy
Fischer Tor
Mai 2021
480
Tom Cage
85