Gemeinsam gegen die Gefahr des Vergessens
Über „Das Orakel in der Fremde“, dem zweiten Teil der Dilogie „Die Chroniken von Beskadur“, kann man nicht schreiben, ohne wichtige Inhalte aus dem ersten Teil zu spoilern. Wer also den Auftaktband „Das Erbe der Elfenmagierin“ noch nicht kennt und genießen möchte, sollte hier nicht weiterlesen.
Dreiunddreißig Jahre später tritt die achte Inkarnation der Elfenmagierin Naromee erneut die Reise an, um ihre Erinnerungen zu finden und das Orakel Niadaris zu befreien. Erneut folgt Ardoas Spuren, um Schritt für Schritt sein Ziel zu erreichen. Dieses Mal sind es nicht die Aufzeichnungen seiner Vorgänger:innen, die ihn leiten. Sondern Informationen, die seine Tante Zordura zusammengetragen und als Nachrichten in einem Kristall versteckt hat. Und dieses Mal begleitet ihn eine Schar an Elfen-Krieger:innenn und Jerudana, die Ex-Söldnerin, die zur Geliebten wurde. Auch der Gelehrte Daludred nimmt Anteil an dieser Reise. Durch Jerudanas und auch Ardoas Augen nimmt er wahr, was ihnen passiert. Und erzählt in separaten Passagen des Romans darüber.
„Die Jahre hier in Beskadur gewähren mir einen Blick in das Gefüge der Zeit [..] geknüpft an meine Vergangenheit, aber auch an die Jerundanas und Ardoas‘. Manchmal schweifen meine Sinne ab und ich erhalte ohne mein Zutun Einblick in andere Leben Dieser orakelhafte Blick in die Zeit eröffnet sich mir nur allmählich – wenn die Gegenwart sich zur Ruhe gelegt hat und zur Vergangenheit geworden ist“.
[Daludred von Beskadur, S. 9]
Ein anderer und doch derselbe
Ardoas III plagen Selbstzweifel. Einen Teil der Erinnerungen der vorherigen Inkarnationen hat er bereits erlangt, während er in Ilbengrund aufwuchs. Das mehrfache Scheitern, unmittelbar selbst erlebt, macht ihm zu schaffen. Dazu fällt es ihm schwer zu identifizieren, welche Gefühle und Gedanken nun zu ihm, oder zu seinen früheren Ichs gehören. Des Weiteren stellt er sich die Frage, wie seine Geliebten und Freunde nun zu ihm stehen.
Nach einer Stippvisite bei den langjährigen Verbündeten in Vaalburg, und Yannau führt der Weg erneut nach Yerebal. Dort erhält Ardoas nützliche Informationen, wird aber auch von den Erluniden angegriffen. Die Flucht führt über zerstörte Elfenpfade in die neu gegründete Heimat Beskadur. Die Gemeinschaft nimmt sich Zeit zur Selbstfindung, Ausbildung und Forschung, bevor sie erneut loszieht, um das Schicksal zu erfüllen.
Zweifel und Neuorientierung
Die achte Inkarnation Ardoas‘ unterscheidet sich von der siebten – und dennoch sind sie eine Persönlichkeit. Chapeau! James A. Sullivan für die Charakterisierung des Protagonisten Ardoas. Es war sicherlich nicht leicht, eine Persönlichkeit zu zeichnen, die in sich aufkeimende Erinnerungen früherer Inkarnationen spürt. Äußerst glaubhaft vermittelt der Autor, wie diese Erinnerungen Ardoas prägen und auch belasten. Während sich der Ardoas aus „Das Erbe der Elefenmagierin“ seiner Stärken bewusst war und nicht abwarten konnte, die Aufgabe anzugehen, leidet der Ardoas aus „Das Orakel in der Fremde“ an Unsicherheit. Wie könnte es auch anders sein? Der Autor gibt ihm Zeit, sich selbst zu finden. Und seine Liebe und Beziehung zu Jerudana, später zu Daludred, erneut zu entfalten. Dazu gilt es seine Rolle als Warledyr (Vater) für Yeraidena, Njeldred und Yordowyn zu finden. Diese vielfältigen persönlichen und familiären Entwicklungen nehmen auf mehreren Ebenen Bezug aufeinander und wirken gerade deswegen so authentisch.
Individualität und Gemeinschaft
Ein halbes Jahr verbringt die Gemeinschaft in Beskadur. Sullivan widmet sich liebevoll und ausführlich jeder Figur, die ins Geschehen eingreift. Deutlich wird, was die besondere Dynamik der Gemeinschaft ausmacht: nämlich das jede Persönlichkeit so angenommen wird, wie sie ist. Zwar pausiert das eigentliche Abenteuer in diesen Kapiteln, die sich vielleicht etwas zu lang hinziehen. Dennoch bieten sie interessanten Lesestoff in Dialogen und Interaktionen, mit magischen Tricks und Rätseln, sowie Hintergründen.
Feinde und Flugschiffe
Die Handlung in „Das Orakel in der Fremde“ ist weniger als Queste angelegt, als in „Das Erbe der Elefenmagierin“. Zwar reist Ardoas mit seiner Gemeinschaft auf vielerlei Routen durch den Kontinent Alvaredur. Die wichtigsten Wendungen der Handlung ereignen sich allerdings nicht auf dem Weg, sondern in der Stadt Lyscalon, in Beskadur und schließlich in Tasraan.
Besonders spannend sind die Szenen der Verhandlungen mit möglichen Unterstützern und die Kämpfe der Gefährten gegen die Erluniden. Aus den Gesprächen mit altbekannten und wiedergefundenen Gefährten und dem König Ioderons erfahren wir weitere Details über Land und Leute. Zu den Höhepunkten des Romans gehören die Einführung der Flugschiffe und die Gefechte auf ihnen. Mit einem guten Gespür für nachvollziehbare Actionhandlungen inszenierte Sullivan die Kämpfe an Board und in der Burg der Erluniden. Diese spannenden und mitreißenden Szenen bieten Kopfkino pur und sind ein echtes Erlebnis.
In Gemeinschaft mit den Ahnen
Die Elfen stehen stellvertretend für jene Völker, die ihre Vorfahren als Teil der Gemeinschaft ansehen. Ohne Naromees Erinnerungen und die Verbindung zu den Verstorbenen werden sie nicht heimisch in Alvaredur. Sullivan greift hier ein kulturelles Erbe auf, das noch in indigenen und afrikanischen Völkern gelebt, jedoch immer mehr von der westlichen Lebensweise verdrängt wird in Vergessenheit gerät.
Fazit
„Das Erbe der Elefenmagierin“ und „Das Orakel in der Fremde“ erzählen einerseits vom spannenden Machtkampf um ein historisches Erbe. Andererseits die wohltuende Geschichte einer Gesellschaft, die Diversität lebt und das Wissen ihrer Ahnen als essentiellen Teil ihrer Existenz begreift. Obwohl es sich um Fantasy-Romane und nicht um Science-Fiction handelt, lesen sie sich wie eine Utopie über ein Leben im Einklang mit der Natur der Vielfalt und einem tiefen Respekt vor den Wurzeln des Daseins. Die Bücher erinnern ein wenig an die Geschichten von Nnedi Okorafor (Binti, Das Buch des Phönix), die Geschichte und Mythologie Afrikas als Basis in eine mögliche Zukunft verankern.
Eva Bergschneider
Die Chroniken von Beskadur, Band 2
Fantasy
Piper
Januar 2022
Buch
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Stephanie Gauger, Guter Punkt
80